Wie eine Mumie stolpere ich durch den Flur der Schule. Meine Schule wird von gestopften Löchern, alten Büchern und vielen, sehr vielen Blättern Papier zusammengehalten, welche links und rechts auf den Wänden aufgehängt wurden. „Schultheater - Jetzt in den Raum 107 kommen um mitzumachen." Diese Plakate hingen dort schon gut 3 Jahre. Doch mich interessiert sowas nicht. Mich interessiert eigentlich generell gar nichts. Ich will bloß diesen öden, ätzenden und ohnehin schon viel zu langen Schultag ein weiteres Mal hinter mich bringen. An mir laufen kleine, unschuldige Kinder vorbei, die gerade einmal auf diese Schule gekommen sind. Aber auch ältere Schüler, die nervigen „Teenager", wie sie sich immer gerne nennen. Sie wurden erwachsen. In ihren Augen auch reifer. Einen 5. Klässler in einer Toilette einzusperren, indem sie die Tür zuhalten ist neuerdings wohl „reif". Unwichtig, denke ich mir. Ich frage mich, warum ich mir überhaupt meinen Kopf über diese Menschen zerbreche. Diese Menschen bedeuten mir rein gar nichts. Mein Leben ist ohnehin schon schwer genug. Mein Leben. Zusammengefasst bin ich ein ganz normaler, stiller und unbedeutender Junge. Ich habe keine Freunde. Wozu auch? Ich bin seit mehreren Monaten in einem Tief angelangt, der vergleichbar mit dem Marianengraben ist. Und in diesem Tief ziehe ich mich zurück, verstecke mich vor Eindringlingen und versuche mein Leben in den Griff zu bekommen. Wie sich herausgestellt hat, ist das schwerer als ich gedacht habe. Nahezu unmöglich. Ein weiterer, unwichtiger Gedanke versucht sich in meinem Kopf in den Vordergrund zu drängen, doch ich vertreibe ihn direkt wieder. Gerade fällt mir auf, dass ich ohne Grund stehen geblieben bin. Geh weiter sage ich mir. Doch es geht nicht. Ich schließe meine Augen. Was mache ich hier eigentlich? denke ich mir. Leben? Nein. Leben kann man das nicht nennen. Höchstens existieren. Einfach da zu sein, ohne einen Grund zu haben, warum. Dieser Gedanke quält mich noch einige Sekunden, bis ich merke, dass meine Beine sich zu Wort gemeldet haben und angefangen haben sich nach vorne zu bewegen. Schritt für Schritt. Elend für Elend. Der Gang scheint mir unendlich lang vorzukommen. Der Schulgong unterbricht für den Bruchteil einer Sekunde mein Elend, da ich wie ein scheues Reh, was gerade einen entfernten Schuss gehört hat, zusammen gezuckt bin. Noch 15 Minuten Pause. Ein entfernter Schuss... das ist das erste an was ich nach diesem kurzen Schockmoment denken muss. Ein Schuss. Mehr würde es nicht brauchen. Um meine Existenz ein für alle Mal zu beenden. Endlich frei zu sein. Frei von Problemen, frei von Sorgen, frei von allem. Ein faszinierender Gedanke. Dieser Fetzen von einem Gedanken lassen mich 10 Meter des Flurs gehen. Doch gehen kann man das nicht nennen. Ich torkele wie ein Zombie umher. Ein Schritt zu weit nach rechts. Dann zwei zu weit nach links. So geht das einige Meter. Da fällt mir das mit dem Zombie wieder ein. Wie ist es tot zu sein? Oder zumindest fast. Der Tod. Jedem Menschen widerfährt dieses Schicksal eines Tages. Manchen früher, manchen später. Manche wollen es, manche nicht. Ich will es schon. Den Faden meines Lebens endlich durchtrennen. Einfach loslassen. Doch was dann? Würde ich dann in den Himmel kommen? Wohl kaum. Die Hölle wäre wohl der bessere Platz für mich. Da könnte ich dann endlich für meine Sünden büßen. Fehler, so viele Fehler die ich gemacht habe. Unverzeihliche Fehler. Die mein Leben zerstörten. Doch ich kann es nicht ändern. Es ist passiert. Passiert, aber nicht vergessen. Nie könnte ich das vergessen. Plötzlich trifft mich ein stechender Schmerz in der Schulter. Ein älterer Junge hat mir mit voller Wucht seine Schulter in meine gerammt. Während er weiter geht lacht er. Doch ich sage nichts. Ich sage nie etwas. Und das weiß er, doch trotzdem nutzt er es schäbig aus. Kleine Ratte. Doch er tut mir Leid. Ich weiß nicht warum, aber dennoch tut er mir Leid. Ich tue mir selber auch Leid. Gefangen in meinem eigenen Körper, den ich über alles hasse. Ohne jede Chance dies zu ändern. Zumindest fast ohne Chancen. Doch ich denke nicht, dass ich den Mumm hätte es selbst zu beenden. Gott die Macht über mein Leben und meinen Tod nehmen. Er wäre machtlos. Er ist machtlos. Er kann nichts dagegen tun. Gott ist sowieso ein Fremdwort für mich. Ich bin kein Freund der Religion und des Glaubens. Ich glaube an gar nichts. Aber vielleicht sollte ich das Mal. Wenn nicht jetzt, wann dann? Was, wenn es bis dahin schon zu spät ist? Und ich bis ans Ende aller Tage in der Glut des ewigen Feuers schmore? Ein erschreckender Gedanke. Erst jetzt fällt mir auf, dass mein Kopf höllisch brennt. Ich hatte definitiv genug für eine Mittagspause nachgedacht. Doch mir bleiben noch knapp 5 Minuten, bis die Mittagspause zuende ist. Ich gehe ein Stück weiter und starre auf einmal auf einen Spiegel. Mich betrachtet ein müdes, trostloses Etwas, was bestimmt einem Menschen ähneln soll. Große dunkle Augenringe, die sich wie ein langer Schatten über das ganze Gesicht verteilt. Eine schlaffer Stand, eine gebeugte Haltung, die an den Glöckner von Notre-Dame erinnert. Dieses Etwas muss ich wohl oder übel mich nennen. Ich bin mit meinem Aussehen nicht umbedingt unzufrieden, mir ist es bloß egal wie andere Menschen mich wahrnehmen. Ich gehe auf mein Spiegelbild zu. Als ich nur Zentimeter vor ihm stehe, überkommt mich ein unglaublicher Hass. Ein Hass auf alles und jeden. Ohne nachzudenken schlage ich auf die Stelle meines Gesichtes im Spiegel. Bruchteile einer Sekunde später ist es fort. Hoffentlich für eine lange Zeit. Ich habe Glück, dass ich alleine auf dem Flur stehe, sonst hätte ich mit Sicherheit nachsitzen müssen. Die Schulglocke lässt einen weiteren, schallernden Klang von sich. Doch dieses Mal erschrecke ich mich nicht. Ich bleibe ruhig und beobachte die Scherben, die vor mir verteilt auf dem Boden liegen. Ich stecke eine ein. Nur zur Sicherheit. Falls es mal ganz schnell gehen muss. Ich verlasse den Flur und begebe mich in mein Klassenzimmer, um die letzte Doppelstunde des Tages zu überstehen. Als ich mich auf meinen Platz setzte, kommt ein Mitschüler auf mich zu. Er fragt mich: „Willst du mir endlich Mal erzählen, was mit dir passiert ist? Seit Monaten benimmst du dich extrem komisch." Doch ich reagiere nicht. Als er weiß, dass er keine Antwort mehr bekommt, geht er. Da antworte ich ihm innerlich: „Sie. Sie ist passiert."