IV

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Der Geschichte zweiter Teil - Wahrheit

Meine Fingerkuppen tanzen über den rauen Stein wie die Regentropfen vor all der Zeit auf dem Asphalt der Stadt. Nur in schwachen Momenten wie diesen erlaube ich es mir zu verweilen, den Augenblick zu genießen und mich der Vergangenheit hinzugeben.

Meine Schönheit war mein Verderben.

Es war dieser Abend voller Hoffnung, der mich nach den Sternen greifen und tief fallen ließ. Der erste und letzte dieser Abende voller Leben. Voller Schönheit. Es war der Geschmack von Freiheit, der mich eingelullt hatte, der mich dazu gebracht hatte, dem Fremden zu folgen. Es war meine Schönheit, die seine Begierde weckte. Es war meine Schuld.

Die Göttin war es, die mir meine Schönheit raubte. Als Strafe für mein einziges Vergehen. Nun bin ich ein Monster. Ein Wesen, das von niemandem geliebt werden kann. Nicht von dem Fremden und auch nicht von den Göttern. Ich bin die Kreatur, die sie in mir sehen wollen. Ich tue das, was all die Menschen von mir erwarteten, während ich den Eingang zur Hölle bewache und durch meinen Garten an Trophäen schlendere.

„Schöne Statuen hast du da." Das Tor quietscht leise, als der junge Mann eintritt. Ich wende meinen Blick nicht um. Er ist entweder naiv oder intelligenter als er aussieht. In jedem Fall einer, der sich einbildet, mich umbringen zu können. Unwillkürlich binde ich das Tuch um meinen Kopf fester. Es waren schon viele von ihnen hier. Sie versuchten das zu töten, was von mir noch geblieben ist.

„Gefallen sie dir?" Meine Stimme klingt rau. Nicht mehr so lieblich wie damals, als ich sie noch öfter benutzte. Als ich meinen Garten noch verließ, um in die Welt hinauszugehen.

„Ja. Sie sind wahre Meisterwerke." Ich frage mich, auf was er anspielt. Er wird es mir vermutlich früh genug noch sagen. Keiner hat es bisher ausgehalten im Anblick des Todes zu schweigen. Es wird sein Tod sein.

Noch immer habe ich mich nicht zu ihm umgedreht. Das Tuch ist noch immer um meine Haare gewickelt, die Sonnenbrille verdeckt meine Augen mit den dunklen Ringen und er konnte noch keinen Blick auf mein viel zu blasses Gesicht erhalten. Schon seit Jahren hab ich nicht mehr in die Sonne geschaut.

„Was willst du, Reisender?" Es ist der treffendste Name den ich jenen, die mich zu töten versuchen geben kann. Sie sind Reisende, die sie zu mir kommen und sich etwas erhoffen, dass ich ihnen nicht geben kann. Sie alle wollen sich davon überzeugen, dass ich das Monster bin, das sie zu kennen glauben. Er wird nicht anders sein als sie.

„Antworten." Ich schweige lange, bevor ich etwas erwidere.

„Auf welche Fragen?" Es scheint ihn aus dem Konzept zu bringen, dass ich keine Gegenwehr leiste. Dass ich nicht das Monster bin, dass er zu sehen bereit war.

„Nenne mir zuerst deinen Preis."

„Antworten" Ich weiß selbst nicht, was ich mir davon erwarte, aber aus irgendeinem Grund reizt es mich die Gewissheit zu haben, die ich seitdem nicht mehr hatte. Noch immer habe ich ihm den Rücken zugewandt. Es scheint ihn nicht zu stören, dass ich nicht bereit bin ihn anzuschauen.

„Wie ist das Verhältnis zu deinen Schwestern?" Seine Frage überrascht mich. Ich hätte mit einer anderen gerechnet. Eine, die ihm bestätigen würde, welch böses Wesen in mir steckt. Es hätte mich auch nicht gewundert, wenn er nach jenem Abend gefragt hätte, oder nach der Zeit danach. Aber die Frage nach meinen Schwestern verblüfft mich genauso sehr, wie die Tatsache, dass er von ihnen weiß.

„Sie besuchen mich. Selten, aber sie tun es." Meine Antwort scheint ihn zufriedenzustellen. Ich kann mir nicht erklären wieso. Meine Schwestern haben nicht das gleiche Schicksal wie ich. Es war nie vorbestimmt, dass unsere Wege für den Rest der Endlichkeit zusammenbleiben.

„Was ist dein Ziel?" Ich stelle die Frage, die mir so brennend auf der Zunge liegt. Er zögert.

„Ich versuche dir zu helfen." Seine Antwort überzeugt mich in keiner Weise. Ich glaube sie ihm schlichtweg nicht. Keiner kommt hierher, um mir zu helfen. Sie wollen das Monster töten, das ist es. Sie wollen es töten und den Ruhm dafür kassieren. Ich interessiere sie dabei nicht wirklich. Er scheint mein Misstrauen zu spüren. Misstrauen ist wie ein Geruch, der in der Luft liegt. Es breitet sich aus, bis in den kleinsten Winkel des Raumes.

Er räuspert sich, bevor er zu seiner nächsten Frage ansetzt.

„Wer hat Schuld?"

„Ich."

„Wieso?"

Die Frage wirft mich aus der Bahn. Ich kann es nicht erklären. Ich weiß keine Antwort darauf. Vielleicht liegt es daran, dass mir diese Frage noch nie gestellt wurde. Weder von mir selbst, noch von irgendjemand anderen.

„Wenn ich nicht Schuld bin, wieso bin ich dann die, die von den Göttern auf diese Weise gestraft wurde?" Ich muss nicht erwähnen was ich meine. Er weiß genauso gut wie ich, was meine ganz persönliche Hölle ist. Meine Schönheit war mir einst wichtiger als alles andere. Seit ich sie verloren habe, bin ich nur ein Schatten meiner selbst. Meinen Augen fehlt das Leuchten, meiner Haut die Farbe und meinen Haaren der einstige Glanz.

Diesmal scheint ihm eine Antwort zu fehlen.

„Sollte nicht der die Schuld tragen, der eine Strafe bekommt?", forsche ich nach, als er noch immer nichts sagt.

„Nein. Die Strafe macht nicht die Schuld aus."

„Die Strafe ist es, die die Schuld definiert", widerspreche ich und drehe mich zu ihm um.

Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und sitzt in seinem roten Sessel, wie er es immer tut, wenn wir uns zu einer neuen Sitzung treffen. Er ist nicht der Erste der versucht meine Psyche zu erklären. Es gab unzählige von ihnen, die versucht haben das Monster in meinem Kopf zu begreifen und daran scheiterten. Sie alle haben einen Platz in meinem Garten.

Er mustert mich nachdenklich, während er etwas auf seinem Klemmbrett notiert. Ich kann die Buchstaben nicht lesen.

„Was fühlst du, wenn du an die Zeit vor diesem Abend denkst?" Glück. Freude. Freiheit. Ich fühlte mich schön. Dennoch bleibe ich ihm eine Antwort schuldig, zucke nur mit den Schultern.

„Was fühlst du, wenn du an die Zeit nach diesem Abend denkst?" Nichts. Es ist eine Frage, die mir all die anderen Psychiater auch bereits gestellt haben. Bisher habe ich keine Antwort gefunden. Ich weiß, dass da Schmerz sein sollte. Verrat. Hass. Irgendetwas, das zeigt, dass das Monster in meinem Kopf mich nicht weiter verfolgt, dass es keinen Einfluss mehr auf mich hat.

Doch es haust noch immer in meinem Garten und bewacht den Eingang zur Hölle.

Medusa - KurzgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt