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Ich stand vornüber gebeugt im Vorbereich der Schultoiletten, die Hände auf das Waschbecken gestützt und starrte in den Spiegel. Alles war wieder normal, dunkle, fast schwarze Haut, wilde, weiß-blonde Haare und stechende, hellblaue Augen. Ich weiß, ich sehe seltsam aus, das sagen mir auch die anderen Kinder an der Schule. Eigentlich wollte ich mir die Haare ja färben, aber das Waisenhaus, in dem ich Wohne, erlaubte es mir nicht. Ich ächtste. Auch heute war es hier in Deutschland viel zu warm. "Scheiß Klimawandel.", knurrte ich und starre weiterhin unverwand mein Spiegelbild an. Immer noch "normal" menschlich.
Ich sollte aber wahrscheinlich erst einmal erklären, warum ich in diesen Spiegel starrte. Es ist heute in der Pause passiert, seit der ich mich im Damenklo verbarrikadiert habe. Ein paar der anderen Mädchen haben sich über mich lustig gemacht und als ich die Fäuste ballte, gruben sich anstelle von meinen Fingernägeln Krallen in meine Handballen. Echte Krallen! Also rannte ich hier hinein und klemmt den Besen, den der Hausmeister hier vergessen hatte unter die Türklinke. Als ich dann mein Spiegelbild sah, geriet ich in Panik. Meine Zähne waren länger und schärfer und Fell, das die selbe Farbe hatte wie meine Haare, breitete sich auf meinem Gesicht aus. Ich stolperte rückwärts und fiel auf den Boden. Einige Zeit blieb ich mit geschlossenen Augen da liegen und atmete tief durch, bevor ich wieder aufstand und mich im Spiegel musterte. Alles war wieder normal. Jetzt wisst ihr, wie ich in diese Situation geraten bin.
Plötzlich klopfte es an der Tür. Es musste ein Lehrer sein, da die Stunde schon längst begonnen hatte und ich öfter nicht zum Unterricht kam. Ich hörte ihn erneut klopfen, doch antwortete nicht. Ich hatte echt keinen Bock auf meine Klasse und die Schule überhaupt.
"Hannah, komm sofort da raus, sonst muss ich dich schon wieder zur Schulleiterin schicken!", rief er. Ich seufzte. Das war mein Klassenlehrer, Herr Müller. Ich antwortete nicht. Sollte er mich doch zur Schulleiterin  schicken! Sie war das eh schon gewöhnt, so oft, wie ich zu ihr geschickt wurde. "Mach sofort die Tür auf!" Herr Müller wurde langsam ungeduldig. Da ich wusste, daß es nicht besser wird, wenn ich noch länger hier drinnen blieb, seufzte ich erneut, konnte meinen Blick aber immer noch nicht von meinem Spiegelbild abwenden. "Jetzt reicht es aber! Zur Schulleiter! Jetzt!" "Ich komme ja schon!", rief ich ihm durch die Tür zu, bevor ich den Besen wegstellte und mit gesenktem Kopf an ihm vorbei ging. Meine Schritte machten keine Geräusche, was man bei meiner kräftigen Statur eigentlich nicht erwartet hätte. Ich schlich an den Klassenräume vorbei und die Treppe hoch.
Kurz vor der Höhle des Löwen, wie ich das Büro unserer Schulleiterin insgeheim nannte, atmete ich noch einmal tief durch, dann klopfte ich.
"Herein.", sagte die Direktorin und ich öffnete die Tür. Frau Sommer, so hieß sie, saß an ihrem Schreibtisch vor dem großen Fenster, durch das die Sonne herein schien. Ihr strenger Blick traf mich und sofort schrumpfte ich innerlich zusammen, bemühte mich jedoch, möglichst aufrecht zu stehen. "Du bist also schon wieder nicht zum Unterricht erschienen?", fragte sie, obwohl es eher wie eine Feststellung klang. "Ja, Miss.", eigentlich werden Lehrer hier nicht so angesprochen, aber Frau Sommer bestand darauf, also hielt sich jeder daran. Sie seufzte und schüttelte den Kopf. "Hannah, die ist sehr wohl bewußt, dass ich das nicht länger dulden kann. Nach den Sommerferien wirst du die Schule wechseln müssen, bei all deinen Fehlstunden kommst du mit dem Unterricht nicht mehr hinter her und du hast dich bei sämtlichen Gesprächen unkooperativ gezeigt. Geh jetzt zurück in den Unterricht." "Ja, Frau Sommer.", antwortete ich monoton. Ich hatte wirklich Probleme mit dem Unterrichtsstoff am Gymnasium hinterher zu kommen und war insgeheim froh, auf eine andere Schule zu kommen, doch mir war bewusst, dass, wenn ich nicht bald adoptiert werden würde, das Waisenhaus diese aussucht.
Nach der Schule fuhr ich mit dem Bus zurück "nach Hause". Doch anstatt das ich, kaum war ich dort angekommen, in mein Zimmer hoch lief und las, wurde ich an diesem Tag von einem Mitarbeiter aufgehalten. "Der Leiter möchte, daß du in sein Büro kommst, also beeil dich besser."
Ich schrie innerlich auf, nicht schon wieder ein Büro! Was hatte ich denn diesmal falsch gemacht? Doch ich lächelte dem jungen Mann einfach zu und beeilt mich, um den Leiter nicht allzu lange warten zu lassen.
Vor dem Büro angekommen seufzte ich erneut. Was hatte ich heute nur mit all diesen Büros? Dann klopfte ich und öffnete gleichzeitig die Tür. Wie festgefrohren, blieb ich im Türrahmen stehen. Der Heimleiter saß am Schreibtisch und ihm gegenüber saßen zwei freundlich aussehende, junge Männer. Die drei schienen sich gerade unterhalten zu haben und blickten mich jetzt freundlich an. "Hannah,", sagte der Leiter, "Das hier sind Jayson und Lorey White. Sie wollen ein Kind adoptieren und ich habe ihnen deshalb die Akten gegeben. Sie wollten dich gerne kennenlernen." Er versuchte höflich zu sein, doch sein Lächeln und seine Haltung wirkten irgendwie steif, auch in seinen Augen war ein seltsamer Blick. Er schien nicht ganz einverstanden zu sein, dass zwei Männer zusammen ein Kind adoptieren, aber mir war das egal. Ich löste mich aus meiner Starre und Tränen liefen meine Wangen herunter. In den zwölf Jahren, in denen ich nun schon hier war, wollte noch nie Jemand adoptieren. Ich würde schon mit unter einem Jahr hier hingebracht und könnte immer nur zusehen, wie andere adoptiert würden.
Der Schulleiter ließ uns alleine und wir unterhielten uns. Ich betrachtete die beiden zum ersten Mal richtig. Jayson, der lieber Jay genannt wurde, hatte die gleiche Haarfarbe wie ich und kluge Augen. Loreys Haare dagegen waren gold-braun und hatten dunklere und hellere Strähnen, nur hinter seinen Ohren waren sie weiß.
Die beiden waren mir sofort sympathisch und ich freute mich, bei ihnen einziehen zu können als sie sagten, sie würden mich adoptieren.

Das Ganze ist jetzt ein Jahre her. Wir wohnen zu dritt in einem Haus an der norwegischen Grenze. Ich gehe in eine Schule in Norwegen und verstehe mich ganz gut mit der Klasse, auch wenn ich trotzdem noch keine richtigen Freunde habe und von ein paar geärgert werde, geht es mir gut.

"Papa, Dad, ich bin zuhause!", rufe ich während ich die Tür aufschließen. Keine Antwort. Ich zucke mit den Schultern. Vielleicht arbeiten sie noch, oder sie sind einkaufen. Ich werfe meine Tasche in die Ecke und gehe ins Wohnzimmer. Dort liegt ein Zettel auf dem Tisch. Ich lesen ihn durch und grinse. Stimmt ja, heute ist ihr Hochzeitstag und Jay hatte Lorey zum campen eingeladen. Sie hatten das vorher mit mir abgesprochen und es machte mir nichts aus. Endlich mal sturmfrei. Papa hat geschrieben, daß noch Thunfischpizza im Gefrierschrank ist. Ich liebe Fisch und taute sie sofort auf. Mal überlegen, was ich bis morgen mittag machen soll, denn dann wollen Papa und Dad wieder kommen. Zum Glück ist heute Freitag. Ich lege mich aufs Sofa und lese erst einmal. Das wird witzig.

Icewalker - eine Woodwalker fanfiction (pausiert) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt