1 - Die Weide

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Wir waren etwa gleich alt. Du warst blond mit einem Zopf und hattest eine große Zahnlücke. Ich hatte einen Pottschnitt und eine etwas zu weite Hose. Ich weiß nicht mehr, wie es wirklich war. In meiner Erinnerung aber haben wir uns jeden Tag bei den Schrebergärten getroffen. Wenn du vor mir dort warst, hast du dich an den Zaun zu den Hühnern gesetzt und ihnen zugeguckt. Manchmal hast du auch nach Regenwürmern gegraben und sie durch die Maschen im Zaun geworfen. Wenn ich früher da war, habe ich mich auf die Bank gesetzt und mit den Füßen den Sand verwischt. Dann sind wir zusammen den Weg zwischen den Gärten entlang gegangen. Bis zu dem kleinen, ungepflegten Stück Wiese mit der großen Weide. Ihre Zweige waren so lang, dass sie bis auf den Boden hingen. Ich zog sie wie einen Vorhang für dich auf.
Drinnen tanzten kleine Lichtwesen auf der Erde. Käfer krabbelten herum und irgendwie waren alle Geräusche von draußen plötzlich leiser. Unter der Weide waren wir Könige und Räuber, auf ihren Ästen Piraten, zu ihren Wurzeln Schatzsucher. Sie war unser Geheimversteck, unsere Zauberwelt, das Hauptquartier. Ich erinnere mich an dein breites Grinsen, kopfüber am Ast. Und dein Lachen, als ich meine langen Zweig-Haare kämmte. Ich erinnere mich daran, wie wir am Stamm gelehnt saßen, als deine Mama gemein zu dir war. Und daran, wie du mich umarmt hast. Ich weinte, weil ich mir die Hand gebrochen hatte. Du sagtest, dass die doch ganz schnell wieder heil wird. War doch bei deinem Arm auch so gewesen. Unter der Weide konnten wir alles sein und alles sagen. Niemand lachte über deine Zahnlücke oder zog an meiner großen Hose.

Einmal kamen wir den Weg entlang und sahen dort abgerissene Zweige liegen. Wir rannten zur Weide, einige Zweige lagen auf dem Boden. Ein paar Ältere waren da gewesen. Einige ausgebrannte Teelichter lagen rum. Leere Flaschen auch. Eine steckte auf einem der kurzen Äste. Von draußen konnte man reinschauen, der Schleier der Zweige war weg.
Wir sammelten alles auf und steckten es in den Mülleimer bei der Bank. Dann setzten wir uns auf die Bank und verwischten beide etwas Sand mit den Füßen.
Am nächsten Tag trafen wir uns wie üblich und gingen zur Weide. Aber am zerissenen Vorhang sahen wir, dass unser Versteck nicht mehr geheim war. Jemand war dort gewesen, an und unter unserer Weide. Und irgendwie hatten wir beide das Gefühl, dass sie nicht mehr uns gehörte. Wir gingen zum Spielplatz am anderen Ende der Schrebergartenanlage. Wir setzten uns nebeneinander auf die Schaukeln und schauten uns nicht an. Ich bin mir nicht sicher, wie oft wir uns noch trafen. Wie oft wir noch schauten, ob der Vorhang wieder geschlossen war. Ich weiß nur, dass ich irgendwann auf der Bank saß und du nicht kamst. Wahrscheinlich war es nur, weil dir etwas dazwischen gekommen war. Aber ich bin am Tag darauf nicht mehr zur Bank gegangen. Vielleicht hast du bei den Hühner gehockt und auf mich gewartet. Wolltest sagen, dass du deine Oma besuchen musstest. Für mich fühlte es sich aber so an, als gäbe es keinen Grund mehr Sand zu verwischen oder Würmer zu suchen.

Die WeideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt