Prolog

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Das Auto war voll bis oben hin. Aus irgendeinem Grund kamen wir alle mit mehr Gepäck aus unserem Urlaub zurück als wir ursprünglich eingepackt hatten. Ich liebte es. Diese ausgelassene Stimmung im Auto, obwohl wir schon einige Stunden mit wenig Bewegung verbracht haben und uns langsam die Beine einschliefen. Dafür war vor allem meine große Schwester Christine verantwortlich. Aus vollem Hals sang sie jeden Song, der im Radio lief, mit. Und das schon seitdem wir losgefahren sind, was mittlerweile ganze vier Stunden her ist. Es faszinierte mich, wie textsicher sie war. Ich schaffte es meistens nur den Refrain zu singen, während sie nahezu jede Strophe auswendig kannte. Doch obwohl mir längere Autofahrten wenig ausmachten, freute ich mich auf zu Hause. Noch ungefähr zwei Stunden. Ich beschloss ein wenig die Augen zu schließen und ließ unseren Urlaub vor meinem inneren Auge Revue passieren. Beachvolleyball mit der ganzen Familie am Strand. Entspannende Lesestunden mit meiner Mutter. Die Wanderung durch das Moor und massenhaft Rührei am Morgen.

Als ich meine Augen wieder öffnete war es draußen dunkel. Sowohl meine Mutter als auch Christine schlief. Wir befanden uns nicht mehr auf der Autobahn, sondern auf einer Landstraße. Es war leer. Nirgends war auch nur ein Auto. Doch ich täuschte mich. Als mich plötzlich das grelle Leuchten eingeschalteter Scheinwerfer blendete, geriet unser Wagen ins Schlingern. Schmerzhaft stieß ich mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe. Die Scheinwerfer kamen näher. Mein Vater riss den Lenker herum und das letzte, was ich hörte waren meine eigenen Schreie.

Ich schreckte hoch. Schwer atmend. Beruhige dich, Doreen. Ein. Aus. Ein. Aus. Der Tod meiner Schwester lag nun ein Jahr zurück, doch die Erinnerung blieb so klar wie der Schmerz in meinem Herzen. Immer wieder träumte ich von dem Unfall und jedes Mal fühlte es sich erschreckend echt an. Es war ein Wunder, dass drei von uns mit dem Leben davonkamen. Aber der Tod hatte Christines Leben beendet. Es hätte mich treffen können. Es hätte jeden von uns treffen können. Aber es hatte sie erwischt. Gott, ich wünschte, ich wäre es gewesen. Ich spürte wie meine Augen feucht wurden, schlug die Decke weg und setzte mich auf die Bettkante. Wütend wischte ich mir eine Träne von der Wange. Das konnte nicht so weitergehen. Die Uhr an der Wand verriet mir, dass es kurz nach Mitternacht war und mir wurde klar, wenn ich den Tod meiner Schwester nicht weiter verdrängen, sondern verarbeiten wollte, musste ich das tun, was ich immer tat, sobald mich etwas sehr beschäftigte. Ich schrieb einen Brief. Darin konnte ich meinen Gefühlen durch Worte Ausdruck verleihen. Meistens schrieb ich meine Gedanken nicht einfach so herunter, sondern versuchte es durch Kreativität. In diesem Fall entschied ich mich für die Form eines Gedichts. Schon lange schwirrte der Gedanke in meinem Kopf herum, dass ich anfangen müsste über meine Schwester zu schreiben, aber es tat zu weh. Es aufzuschreiben würde alles nur realer wirken lassen. Selbst jetzt, als ich schon an meinem Schreibtisch saß und den Stift verkrampft in der Hand hielt, zögerte ich. Und dann fing ich an zu schreiben.

Sobald ich einmal angefangen hatte zu schreiben, konnte ich gar nicht mehr aufhören. Die Worte flossen dahin. Mein Gedicht besaß schon bald kein Reimschema mehr. Vermutlich wurde dieser Brief der chaotischste, den ich je verfasst hatte, aber das war mir egal. Ich schrieb über all die Trauer und auch über die Eigenschaften von Christine, die mich zum Lachen brachten.

Als ich fertig war, fühlte ich mich erschöpft. Erschöpft und erleichtert, dass ich diesen Brief endlich geschrieben hatte. Der Stift fiel aus meiner Hand und ich nahm mir vor, den Brief gleich morgen früh an einem ganz bestimmten Haus einzuwerfen. Ich hatte ja keine Ahnung, welche Welle der Ereignisse ich damit auslöste.

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