14-Ria

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Ich erwachte und mein Rücken schmerzte von der Nacht auf dem kalten harten Boden. Die Sonne war bereits aufgegangen, doch es konnte noch nicht spät am Morgen sein. Vereinzelt sangen Vögel um die Wette und ich genoss dieses Geräusch, das ich doch sonst nur aus dem Fernseher kannte. Hoffnungsvoll suchte ich mit meinem Blick die Äste der Bäume ab, doch sehen konnte ich die Vögel nicht. Mit Mühe rappelte ich mich auf und streckte meinen Rücken. Diese blöden Schmerzen! Wenn das in der nächsten Zeit so weiterging würde ich vor Schmerzen sterben.
Das Strecken half nicht wirklich gegen den Schmerz, doch es tat gut meine Gliedmaßen zu bewegen und ich seufzte wohlig.
Ein Kichern weckte mich aus meinen Gedanken. Es kam eindeutig von Liah. Als mein Blick zu ihr wanderte, sah ich, dass sie schon wach war und gerade die Sachen einpackte. War sie schon die ganze Zeit wach gewesen? Das konnte gut sein, sie hatte doch Nachtwache gehalten.
...Moment... warum hatte sie mich nicht geweckt?! Wir wollten die Nachtwache doch aufteilen!
Vorwurfsvoll sah ich Liah an und fragte:„Warum hast du mich nicht geweckt?"
Sie zuckte mit den Schultern.
„Weiß nicht. Ich dachte, ich lasse dich besser schlafen.", murmelte sie schließlich.
Das war nett von ihr, aber ich hätte die Nachtwache gerne gemacht.
„Das hättest du nicht zu tun brauchen. Ich bin alt genug um die Nachtwache zu übernehmen. Sogar älter als du. Aber trotzdem danke."
Liah sah mich verdutzt an, doch ich bedeutete ihr mit einem Blick, dass ich nicht wütend war. Das war ich noch nie gewesen. Ich kannte Wut nur aus Filmen und von Liah. Selbst war ich solange ich mich erinnern konnte nie wütend gewesen. Nur traurig. Oder ich wusste einfach nicht, was Wut war.
Ich lächelte zaghaft und half dann Liah, die Sachen in die Rucksäcke zu packen.
Mit den Decken mühten wir uns besonders ab. Zuhause noch hatten sie ganz einfach hineingepasst, doch jetzt schien es, als sei der Rucksack über Nacht geschrumpft. Schließlich war meine Geduld am Ende und ich drückte die Decken mit meinem Fuß in den Rucksack.
Na endlich! Ich seufzte auf und ließ mich auf den Boden plumpsen.
„Autsch!", vernahm ich ein Geräusch von unter mir und erschrocken sprang ich auf. Hatte ich mich gerade wirklich aus Versehen auf Maja gesetzt?
„Sorry", murmelte ich verlegen, doch ich konnte mir das Lachen einfach nicht verkneifen.
„Lach nicht! Das tat echt weh!", empörte sie sich, aber auch ihr viel es schwer, angesichts der Lage nicht zu lachen.
„Ähm... Leute? Habt ihrs dann mal?", holte uns Liah aus unserem Lachanfall, „Wir müssen weiter. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Gräfin uns suchen wird und wir sind nicht gerade unauffällig."
Natürlich hatte sie Recht. Sie hatte immer recht, also schnappte ich mir meine Sachen und fragte:„Na? Wohin soll's gehen? Ich persönlich würde ja mal gerne nach Paris. Immerhin für den Anfang mal. Was meint ihr?"
Maja zuckte mit den Schultern.
„Hauptsache weg.", meinte sie und blickte fragend zu Liah. Auch diese zuckte nur mit den Schultern und somit war es besiegelt. Also ab nach Paris.
„Wo lang?", fragte ich.
„Nun ja...", begann Maja und überlegte kurz, „auf dem Handy nachschauen können wir nicht. Das müsst ihr sowieso bald wegwerfen. Also würde ich vorschlagen, dass wir zurück zum Bahnhof gehen und dort dann erstmal die richtige Richtung raussuchen."
„Klingt gut", meinte Liah und auch ich nickte.
„Also los!"
Mit diesen Worten stapfte Maja voraus und wir folgerten ihr wie ein Schwarm Küken. Wir liefen den selben Weg zurück, den wir gestern gegangen waren und setzten uns wieder in einen Zug. Mir war das Ganze nicht wirklich geheuer. Was wenn der Zug in einem Bogen wieder zurück fuhr? Oder wenn man uns schon auf die Schliche gekommen war und wir mit jedem Schritt in Richtung des Bahnhofs dem Verderben ein Stückchen näher rückten.
Ich schüttelte meinen überfüllten Kopf um all die unerwünschten und angsteinjagenden Gedanken loszuwerden. Es würde alles gut gehen. Es musste alles gut gehen!

***

Mit einem leichten Ruck setzte sich der Zug in Bewegung und ich atmete tief ein um mich zu beruhigen. Hier war niemand der uns verfolgte! Ich schweifte mit dem Blick über die anderen Sitze. Wie am Vortag war der Zug nur spärlich gefüllt, sodass ich mir leicht einen guten Überblick verschaffen konnte. Eine Frau Mitte zwanzig, die an ihrem Handy war, ein älterer Herr mit Gehstock und Bauernmütze und ein Junge in meinem Alter.
Moment mal.
Dieser Junge... war er nicht gestern schon in unserem Zug gewesen?
Sicher konnte ich mir natürlich nicht sein, doch mein Herz begann augenblicklich zu schlagen, als würde ich einen Marathon laufen. In letzter Zeit schlug mein Herz oft so schnell. Sollte ich mir Sorgen machen?
Der Junge, der bis gerade eben ein Buch gelesen hatte hob nun den Kopf als habe er meinen Blick auf sich gespürt und sah mir in die Augen.
Seine Augen waren grün.
Meeresgrün mit schwarzen Sprenkeln darin.
Ich schnappte nach Luft und rüttelte Maja, die mir gegenüber saß am Arm. „Oh Gott! Der Junge! Er verfolgt uns!", stieß ich gepresst hervor und krallte meine Fingernägel in ihren Arm.
Maja und Liah drehten sich gleichzeitig zu dem Jungen um, doch dieser hatte dich wieder seelenruhig seinem Buch gewidmet als gäbe es uns gar nicht.
„Mann Ria! Der verfolgt uns doch nicht! Schau doch: Er liest nur ein Buch.", sagte Liah genervt und wandte ihr Gesicht wieder Richtung Scheibe.
„Nein! Er war gestern auch schon in unserem Zug!", protestierte ich.
Auch Maja sah mich zweifelnd an und sagte dann:„Ria. Das bildest du dir bloß ein. Ich weiß es ist beängstigend, aber du musst einfach durchatmen und dich beruhigen, okay?"
„Aber-", setzte ich an.
„Riaaa! Stopp! Reiß dich zusammen.", unterbrach mich Liah und wandte sich dann an Maja um das Thema zu wechseln.
„Wieso bist du eigentlich von zuhause weggelaufen?", fragte sie.
Maja war das Thema offensichtlich unangenehm, denn sie senkte den Blick. Es schien, als wolle sie dichtmachen, doch schließlich hob sie den Kopf und sagte:„Das ist eine lange Geschichte. Wenn ihr sie hören wollt, okay. Ich kann sie etwas kürzen."
Sie lächelte zaghaft.
Ich nickte und Liah setzte sich etwas aufrechter hin und sah Maja interessiert an.
Diese atmete tief durch und gab sich einen Ruck.
„Also. Meine Eltern haben sich schon länger nicht mehr so gut verstanden, aber dann kam die Zeit, in der sie nur noch stritten und irgendwann fing mein Vater an, meine Mutter zu schlagen. Sie hat es über sich ergehen lassen. Sie hat sich nie verteidigt und ich verstehe nicht warum. Bis heute nicht.
Aber ich habe versucht sie zu verteidigen, weil sie es ja selbst nicht gemacht hat. Und da hat mein Vater auch mich geschlagen.
Ich hatte es nicht erwartet, denn wer glaubt denn schon, dass der eigene Vater so gewalttätig ist und sogar seine eigene Tochter schlägt?
Ich wollte weg von dort und habe Mama angefleht diesen gewalttätigen Arsch zu verlassen, aber sie hat sich geweigert. Sie wollte nicht von da weg, versteht ihr? Und ab da wusste ich, dass ich gehen muss. Denn ich weiß, ich kann sie nicht verteidigen und sie wird mich auch nicht verteidigen. Ich wollte die nicht zurücklassen, aber ich dachte mir, wenn sie das so will ist es ihr überlassen. Und ich hab mich von ihr verraten gefühlt. Ich dachte, sie würde mich beschützen und ihn verlassen - meinetwegen. Aber da sie es nicht getan hat habe ich mich eben selbst gerettet."

Ich wollte etwas sagen. Ihr sagen, wie leid mir das für sie tut. Ich wollte die trösten und ihr Mut zusprechen, doch nichts davon hätte ihr geholfen und ich kam mir untauglich vor. Ich konnte sie mit keinen Worten trösten. Ich hatte weder die Erfahrung noch die Begabung dafür. Also nahm ich sie nur stumm in den Arm als sie leise zu weinen begann und auch Liah gesellte sich zu uns.
So saßen wir einfach da bis Majas Tränen versiegten und sie sich wieder von uns löste.
„Danke", murmelte sie leise und setzte sich wieder ordentlich hin. Sie strich ihr Haar glatt und sah dann an Liah vorbei aus dem Fenster.

Die Rest der Fahrt verbrachten wir schweigend.

***

Als wir abends endlich an einem vernünftigen Ort ankamen, hatte sich die Sonne bereits hinter die Berge verkrochen und es war schon fast ganz dunkel. Als wir ins Freie traten atmete ich erstmal die frische Luft ein. Es war mit der Zeit stickig geworden und jetzt den frischen Wind an meinem Gesicht zu spüren war das Angenehmste der Welt. Meine Beine fühlten sich ungewohnt wackelig von der langen Fahrt an und ich musste meinen linken Schuh neu binden. Als ich gerade auf dem Boden kniete um eine neue Schlaufe zu machen sah ich aus dem Augenwinkel, wie der Junge den Zug verließ.
Das konnte doch beim besten Willen kein Zufall sein!
Maja und Liah hatten ihn nicht bemerkt und mein Gefühl sagte mir, dass ich ihnen auch nichts davon erzählen sollte.
Liah zeigte nach links und schlug vor, dort lang zu gehen, also setzten wir uns in Bewegung. Ich spürte den Blick einer fremden Person im Nacken und wusste, dass der Junge uns folgte.
Eigentlich hätte ich jetzt wohl Liah oder Maja Bescheid sagen sollen, doch ich wusste, dass sie mich nur für paranoid gehalten hätten, also ließ ich es bleiben.
Ich verlangsamte meine Schritte und ließ die beiden vorausgehen sodass uns einige Meter trennten. Sie bemerkten es gar nicht, denn sie gingen immernoch stumm gerade aus ohne einander anzusehen.
Ich lauschte auf die Schritte hinter mir, die immer näher kamen und mein Herz beschleunigte sich mal wieder. Als die Schritte ganz nah waren drehte ich mich um umsah genau in die grünen Augen des Jungen.
Er blieb erschrocken stehen und ich fixierte ihn mit meinem Blick.
„Warum verfolgst du uns?", fragte ich ihn mit schneidender Stimme.

Meine unendlichen GesichterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt