Kapitel 1 Teil 3

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Rory

Ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen soll, dass meine Eltern vor zwei Tagen plötzlich mit der Tür ins Haus gefallen sind und hektisch verkündet haben, dass wir den nächsten Flug nach Mallorca nehmen. Die Aussicht auf einen Urlaub im Ausland war sehr verlockend, weil ich dachte, dass meine Eltern endlich mal was mit mir unternehmen wollen, und dass ich ihnen doch nicht egal wäre, aber dem war nicht so. Alles verlief unter Stress, mit dem man keine Reise antreten wollen würde. Außerdem machte die Tatsache, dass es sich nur um eine Geschäftsreise meiner Eltern handelte, zu der ich leider mitmusste, weil sie keinen Babysitter besitzen, meine Freude wieder zunichte.

Ich höre sie im Arbeitszimmer mit irgendjemandem reden.

Wahrscheinlich wieder mit einem ihrer Kunden. Papa steht mit ernster Miene neben ihr und knibbelt nervös an seinen Nägeln, während ich unauffällig durch die Tür luge. „Ja. Nächste Woche sagen Sie? Auf Mallorca? Wir werden da sein und uns Ihr Grundstück ansehen. Ja, danke. Auf Wiederhören", plärrt Mama, ganz die Geschäftsfrau, in den Hörer und legt auf.

„Das sind die zwei mit einer Wunschvilla in Spanien. Wir sollen uns das Baugrundstück nächste Woche ansehen. Sie wollen sich mit uns treffen. Familie Kalenski. Das heißt, wir haben einen Auslandsauftrag in der Tasche. Wie lange ist das schon her, Michael? Am besten wir suchen schon mal ein Hotel, sonst ist alles ausgebucht. Oder warum fahren wir nicht jetzt gleich, wenn wir schon mal nach Spanien fliegen? Wir nehmen einfach unsere Laptops und Tablets mit. Die Arbeit können wir auch außer Haus ausführen. Hach, ich war ja schon ewig nicht mehr in Spanien!", schwärmt meine Mutter völlig aus dem Häuschen und klappt ihren ultramodernen Laptop hoch, um gleich Seiten mit den besten Hotels zu durchstöbern. Sie scrollt über die Seite und klickt sich durch sämtliche Hotelangebote.

„Mist. Die guten sind schon ausgebucht oder haben keine Kinderbetreuung. Rory muss ja mit. Geht nicht anders. Wer weiß, was er für Blödsinn anstellt, wenn wir ihn hierlassen ... Meine teuren Vasen ...", seufzt Mama.

Ich beiße mir auf die Lippen und lasse die Hand am Türrahmen heruntersinken. Jetzt bin ich wieder nur eine störende Last, mit der man nicht weiß, wohin.

„Und was ist mit dem Hotel? Ist doch einigermaßen tauglich. Entspricht zwar nicht im Geringsten dem, was wir sonst immer buchen, aber für den Auftrag wird es schon gehen. Und es ist mit Kinderbetreuung." Papa deutet mit dem Finger auf ein Bild, das ich von weitem nicht ganz erkennen kann. „Nur ein Mini-Pool und keine Sauna. Nicht mal Zimmerservice. Entspricht zwar nicht unseren Verhältnissen, aber was soll man machen?", seufzt meine Mutter wieder theatralisch.

Was den Status meiner Eltern angeht, der ist ihnen das wichtigste auf der Welt. Das Gefühl habe ich jedenfalls. Den würden sie um jeden Preis schützen. Nur das Beste zählt. Das beste Hotel, der beste Schlitten, der beste Service. Aber so sind sie nun mal. Keine Ahnung, wie lange schon. Als ich geboren wurde, waren sie bereits so kalt zu mir. Ich kann mich nicht daran erinnern, je umarmt worden zu sein, je ein aufrichtiges Lob bekommen zu haben oder dass mir jemand mal zart durchs Haar gestrichen hätte. Niemand aus meiner Familie macht den Eindruck, dass ich ihm irgendetwas bedeuten würde. Nicht meine Tanten, nicht meine Onkels oder eingebildeten Cousinen. Meine Großeltern sind allesamt tot, deshalb kann ich dazu nichts sagen. Ich habe nicht mal den blassesten Schimmer wie Opa Hermann, väterlicherseits, aussieht. Ich bekomme zu Weihnachten Geschenke, klar. Aber dann nur ein paar bloße Geldscheine mit einem: „Hier, kauf dir was Schönes" oder ein paar eintönige Markenklamotten, die im Idealfall möglichst schwarz oder weiß sind. Sowas wie ein gemütliches Weihnachtsessen gibt es nicht. Mama kocht nicht gerne, deshalb bestellt sie, wenn überhaupt, nur etwas vom Lieferanten oder besorgt aus dem Supermarkt irgendwelche Fertigsalate, die sie für gesund hält, während die „Familie" ihr Essen vor dem PC, Laptop oder wie ich, am Küchentisch isst. Ja, meine Eltern arbeiten auch an Heiligabend und den anderen Weihnachtstagen. Was soll ich dazu noch sagen?

Yin und Yang- Rory und IvanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt