Kapitel 1 Teil 4

56 1 0
                                    

Ivan

„Ich habe meinen Koffer ausgepackt. Darf ich jetzt an den Strand?", rufe ich erwartungsvoll und renne ins Schlafzimmer meiner Eltern.

„Allein? Willst du nicht warten, bis wir auch fertig sind?", seufzt Mama und hält mitten in der Bewegung inne. Sie streicht sich eine hellblonde Strähne hinters Ohr.

„Bittteeee! Der Strand ist doch fast vor der Tür. Ihr könnt doch nachkommen", bettele ich mit Schmollmund und meinem Hundeblick, dem Mama nur an ihren schlechten Tagen widerstehen kann.

Mama verkneift sich ein Grinsen und seufzt erneut. „Na gut. Geh nur. Wir sind schließlich im Urlaub", gibt sie schließlich nach.

„Juhuuu! Dann bis später!", jubele ich und winke zum Abschied.

„Aber sei vorsichtig und bleib in der Nähe!", ruft Mama.

„Ja, mach ich", erwidere ich, dann bin ich auch schon aus der Tür, schnappe mir mein Skateboard und renne die Treppen nach unten. Das kleine Hotel ist von einer breiten Hecke umgeben, die in einem hohen Metalltor übergeht, das mit jedem Mal, wenn man es aufschiebt, laut schlittert und quietscht. Ich stelle mich auf mein Skateboard und rolle los. Direkt gegenüber ist ein großer Spielplatz mit kreischenden Kindern, von denen ein paar spanische Begriffe von sich geben. Rechts steht ein großes Schild mit der Aufschrift Supermercado. Was wahrscheinlich Supermarkt heißen soll.

Als mir auf dem Bürgersteig ein paar Fußgänger entgegenkommen, springe ich mit einem gekonnten Skateboard-Stunt vom Gehweg und weiche einem herannahenden Auto aus, das zum Glück nur Schrittgeschwindigkeit fährt. Dann biege ich um die Ecke. Direkt vor mir prangt ein prächtiges Hotel mit goldenen Verzierungen und Schnörkeln an der Fassade. Ein großes Schild unter einer Palme verrät, dass die Allee links zum Strand führt. Daneben landet man schon in der Stadt, die aus einer gemütlichen Fußgängerzone mit kleinen Läden, Restaurants und Cafés besteht. Da würde ich gerne mal vorbeischauen, aber erst will ich zum Strand. Das ist das Beste im Urlaub. Außerdem habe ich Mama versprochen, dass ich am Strand bleibe und nicht abhaue. Also fahre ich auf die Palmenallee zu und rolle den Berg hinunter. Die komischen Marmorsteine hier sind ein bisschen uneben und nicht so gut befahrbar wie das Pflaster der Straße. Ein paar Kieseln auf dem Weg weiche ich aus, damit ich nicht ins Schlittern komme. Jetzt rollt Rolly immer schneller, sodass ich gar nichts mehr machen muss und gerate durch die Geschwindigkeit ein wenig ins Straucheln. Mist! Ich muss bremsen. Aber mein Board besitzt keine Bremse wie bei diesen Hightech-Dingern. Ich versuche so gut wie möglich mein Gleichgewicht zu halten und merke erst kurz bevor ich am Strand ankomme, dass ein Stein mitten auf dem Weg liegt. Bevor ich reagieren kann, kollidiert mein Skateboard mit dem Eisberg, sodass ich im hohen Bogen vom Board geworfen werde. Mitten im Flug realisiere ich noch, dass daneben im Sand ein Junge sitzt, den ich zum Glück nicht mit wegschleudere. Dann lande ich mit einem lauten Platsch im Wasser. Es ist nicht besonders tief, aber tief genug, um mich vollständig zu durchnässen. Mit ein paar Schimpfwörtern auf den Lippen, für die mich Mama sicher getadelt hätte, komme ich wieder auf die Beine. Ein widerlicher Salzgeschmack breitet sich in meinem Mund aus. Grummelnd stapfe ich aus dem Wasser und stehe dem schwarzhaarigen Jungen mit den unglaublich blauen Augen gegenüber. Ein bisschen verstört und dann wieder ernst sieht er mich an und hebt meine Cap auf, die bei meinem Sturzflug vor seine Füße gefallen ist. „Hier. Ich glaube, die gehört dir", sagt er mit ausdrucksloser Stimme. „Danke." Als ich näherkomme und sie ihm abnehme, fällt mein Blick auf die schwarze Kette, die an seiner Brust baumelt. Mit großen Augen fasse ich mir an den Hals, an dem das Gegenstück in Weiß hängt. Yang. Und er hat Yin. Was für ein Zufall!

„Ich habe auch so eine Kette", lächle ich und zeige ihm meine. Jetzt ist er es, der große Augen macht. Ich meine sogar, mir einzubilden, dass sie anfangen zu glänzen, als sein Blick sich auf den Anhänger meiner Kette heftet. „Yang ...", wispert er. Sekundenlang verharrt er so, dann wird er wieder ernst. Weil er darauf nichts erwidert, rede ich einfach weiter. „Was machst du hier so allein?" Eindringlich sehe ich ihn an. Jetzt hebt er wieder den Blick, schaut wieder nach unten. „Ich sitze und gucke aufs Meer", meint er und lässt ein paar Sandkörner durch seine Hand rieseln.

Yin und Yang- Rory und IvanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt