Mein Untergang

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März 2019

Eine leichte Gänsehaut bedeckt meine Arme, als ich die dünne Strickjacke etwas fester um den Körper schlinge und die Sonnenbrille auf der Nase zurechtrücke. Alle paar Minuten kommt die Sonne hinter den dicken Wolken hervor und spendet angenehme Wärme, doch in den Zeiten dazwischen lässt der kühle Wind einen frösteln. Der Frühling ist kleidungstechnisch immer eine kleine Herausforderung – entweder man ist zu frisch angezogen und friert oder man hat eine Schicht zu viel und schwitzt. Erstere Option ist mir dann aber doch irgendwie lieber.

„Hi Jinny", höre ich plötzlich zu meiner Linken und drehe mich um. Ana, meine Partnerin aus dem Aerial Yoga Kurs, den ich mir seit einigen Monaten antue, um einigermaßen fit zu bleiben, bahnt sich freudestrahlend einen Weg durch die Menge. „Ganz schön was los heute, oder?"

Sie bleibt neben mir stehen und ich nicke.

„Sogar der Rektor ist hier", sage ich und zeige in Richtung der Bühne, die direkt neben dem Spieler-Eingang des Footballstadions aufgebaut wurde und auf der sich eine Handvoll Leute tummeln.

„Kein Wunder", Ana verschränkt die Arme vor der Brust und verdreht die Augen dabei, „so viel Presse, wie hier aufgeschlagen ist. Heute ist der erste Drehtag für die Dokumentation über die größten Stadien der Mountain States und die vom MSC ziehen es ganz spektakulär auf." Sie schürzt ihre dunkelrot angemalten Lippen und schaut sich um.

„Und es geht lediglich um ein Graffiti", werfe ich ein. „Ich dachte, die RAWRcats haben eine gute Saison abgeliefert – oder warum wird von der Leistung der Mannschaft so abgelenkt?"

Ana zuckt mit den Schultern. „Es gab ein paar ... Vorfälle im Team, die lieber nicht nach außen dringen sollten. Vielleicht deswegen der Aufriss."

Ich schaue sie fragend von der Seite an, doch der undefinierbare Ausdruck in ihrem Gesicht hält mich davon ab, weiter nachzubohren. Sie scheint mehr dazu zu wissen, aber nicht den Eindruck zu machen, als würde sie gerne darüber sprechen.

Stattdessen lenke ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Umgebung. Es haben sich schätzungsweise einige hundert Schaulustige zu dem Event eingefunden, neben etwa einem Dutzend lokalen Reportern und einem etwas größeren Kamerateam, das sogar mit Drohnen einige Luftaufnahmen macht. Mein Blick wandert wieder zurück zur Bühne und ich grinse, als mir sofort der rote Haarschopf meiner Mitbewohnerin ins Auge fällt. Pixie steht in einem Grüppchen direkt neben dem Rednerpult und sieht aus wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Heute morgen habe ich ihr noch dabei geholfen, das Outfit für den kleinen Auftritt auszusuchen, bei dem sie nichts sagen, sondern einfach nur danebenstehen muss, wenn das Kunstwerk, das sie und ihre Teamkollegen in den letzten Monaten erschaffen haben, enthüllt wird. Trotzdem glaube ich, dass ihr Puls gerade in einem Bereich verweilt, der auf Dauer garantiert ungesund ist. Ihr Blick springt etwas unbeholfen über die Menge, so als wäre sie auf der Suche nach etwas oder irgendwem, als er sich mit meinem kreuzt und ich Pixie ein ermutigendes Daumen hoch zeige. Sie lächelt vorsichtig.

„Ich bin gleich wieder da, ja? Ich hab gerade jemanden gesehen, den ich noch begrüßen möchte", sagt Ana und schiebt sich nach einem Nicken meinerseits durch eine Gruppe Cheerleaderinnen, die kichernd ein paar Schritte von uns entfernt stehen und sich für ihren Auftritt bereithalten. Von Pixie weiß ich, dass, sobald das Graffiti über dem Eingang enthüllt wird, die gesamte Football-Mannschaft in voller Montur aus eben jenem herausgelaufen kommt.

Ich beobachte, wie Ana sich zu ein paar Leuten stellt, die ich nicht kenne – wahrscheinlich Kommilitonen – weswegen ich den Blick wieder abwende und stattdessen mein Handy aus der Tasche heraushole. Der Kerl, den ich vor etwa einer Woche im Travellers kennengelernt habe, hat sich bisher nicht gemeldet und ich glaube, dass es bei dem leeren Versprechen bleibt. Das kleine Stelldichein in den Toilettenräumen hat ihm wohl gereicht.

Typisch. Nur die Ausnahmen machen sich überhaupt die Mühe, ehrlich zu sein.

Mit einem frustrierten Seufzen lasse ich das Handy wieder in der Tasche verschwinden und schaue auf, als ich plötzlich in der Bewegung innehalte und ihn sehe. Eine Gänsehaut überzieht meinen gesamten Körper, doch dieses Mal liegt es nicht am Wind, der wieder ganz sachte aufzieht. Es ist sein unverkennbares Lächeln, das sofort alle Gefühle, die ich in den letzten Monaten so erfolgreich zu überwinden geglaubt habe, in mir erweckt und wie im Zeitraffer durch mich hindurchströmen lässt. Dieses Lächeln, das die Knie schwach werden und mein Herz stärker schlagen lässt.

Mein ganz persönlicher Untergang.

***

„Ich hoffe, ich muss es nie wieder machen", stöhnt Pixie und stellt sich neben mich, während ihr Freund Nevan die Arme von hinten um ihre schmale Taille schlingt und sie an sich drückt.

„Du hast es toll gemacht", sage ich aufmunternd. „Das Bild sieht großartig aus."

Ich schaue zur Wand, auf der ein stilisierter Luchs-Kopf prangt, der brüllend seine scharfen Zähne zeigt; da drunter steht RAWRcats in allen Regenbogenfarben, sowie das Logo vom Montana State College. Von Pixie weiß ich, dass sich im Spielertunnel, bei den Eingängen zu den Umkleidekabinen, ein zweites Graffiti verbirgt, das Bob, unser Maskottchen, im Sprungangriff zeigt.

Der Trubel hat sich mittlerweile gelegt, nachdem der Rektor eine ausschweifende Rede über Teamgeist, Tradition und Leistung gehalten hat, das Bild enthüllt wurde und die Football-Mannschaft inklusive der Cheerleaderinnen und der Blaskapelle, von der ich bis vorhin nicht mal wusste, dass sie existiert, ihren Auftritt hatten. Leider ist es mir nur bedingt gelungen, dem ganzen Spektakel zu folgen, denn meine Aufmerksamkeit hatte sich für ein anderes Thema entschieden. Und so habe ich stattdessen alle paar Sekunden ein Grüppchen etwas abseits der Menge beobachtet. Auch Ana, die einige Minuten nachdem ich ihn entdeckt habe, wieder zu mir zurückgekommen ist, hat meine Unruhe bemerkt. Doch ihren Fragen dazu bin ich weitestgehend ausgewichen. Inzwischen ist sie mit ihrem Kumpel Jacob, den ich nur ganz flüchtig zu Gesicht bekommen habe, von dannen gezogen, während ich auf Pixie gewartet habe, die offenbar noch ein kurzes Interview geben musste.

„Ich bin so müde." Pixie gähnt und streckt sich in Nevans Armen.

„Kein Wunder, du hast die Nacht auch kaum ein Auge zugetan. Wollen wir uns für eine Stunde hinlegen?", fragt er und sie nickt.

„Dann erholt euch mal gut", sage ich grinsend und zwinkere. „Ich zieh mir noch ein paar Folgen Dexter rein, bevor ich mich spätestens morgen an meine nächste Projektarbeit setzen muss."
Pixie schenkt mir einen schuldigen Blick. „Ich lasse dich ständig alleine, es tut mir leid."

Doch ich hebe beschwichtigend die Arme. „Nichts für ungut, Süße, aber ich bin wirklich froh, dass ihr die Möglichkeit habt, bei Nevan zu sein, denn so muss ich mir nicht gewisse Dinge ansehen, die ihr garantiert so treibt."

„Ich weiß gar nicht, von was für gewissen Dingen du da sprichst", entfährt es ihr entrüstet und ich lache lauf auf, als Nevan leise „Doch, tust du" entgegnet und ihr damit einen hochroten Kopf beschert.

„Bevor deine Rübe explodiert, such ich lieber mal das Weite. Wir sehen uns dann die Tage, wenn du wieder frische Klamotten brauchst", sage ich und verabschiede mich winkend in Richtung der Wohnheime.

Mit einem Seufzen schließe ich die Tür hinter mir und ziehe die schwarzen Spangenschuhe mit Keilabsatz aus, die zwar toll aussehen, aber irgendwie so gar nicht für langes Stehen gedacht zu sein scheinen.

Die Feier hat etwa eineinhalb Stunden gedauert, doch für mein Zeitgefühl ist es eine halbe Ewigkeit gewesen, denn die Tatsache, dass er dort aufgetaucht ist, versetzt mich emotional in einen Zustand, auf den ich liebend gerne verzichten würde.

Mit einem Haargummi zwischen den Zähnen beginne ich, meine schulterlangen Haare hochzubinden, als es plötzlich an der Tür klopft. Stirnrunzelnd halte ich in der Bewegung inne, ehe ich das Gummi aus dem Mund nehme und an mein Handgelenk ziehe. Mein Blick bleibt an dem Tattoo hängen, das ich mir vor ein paar Monaten habe stechen lassen. In meinem Magen rebelliert es.

Es klopft erneut.

Ich schüttle die Erinnerungen ab, die sich so penetrant in den Vordergrund meiner Gedanken drängen, und öffne die Tür, nur um im selben Moment zu erstarren. Denn das Lächeln, mit dem ich konfrontiert werde, lässt mich das Atmen vergessen.

Henry ...

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