Seine Schwäche

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18 Monate zuvor

„Beeil dich, Jinny, wir kommen sonst zu spät", sagt Pixie, während sie – mit einer Hand in die Hüfte gestemmt – vor der Tür unserer gemeinsamen Wohnheimzimmers steht und ungeduldig mit dem Fuß wippt.

„Ja, doch", gebe ich stöhnend von mir und greife nach meinem Rucksack, der zwischen Bett und Kleiderschrank steht. „Wir haben noch fünfzehn Minuten, also noch alle Zeit der Welt, bis der Kurs anfängt."

„Und die besten Plätze weg sind", ergänzt meine Mitbewohnerin und streicht sich eine Strähne ihrer naturroten Haare, die sie zu einem Zopf geflochten hat, hinter das Ohr. Mit der dicken Hornbrille und ihrem mausgrauen Pullover inklusive schlichter Blue Jeans gibt sie das perfekte Bild eines Klischee-Nerds ab, der sich auch noch in der Wahl ihres Hauptstudienfaches widerspiegelt: Informatik.

„Die Plätze ganz hinten?" Ich werfe meinen Block sowie ein paar Stifte in den Rucksack und ziehe den Reißverschluss zu..

„Die vorne natürlich", antwortet sie beinahe entrüstet und schiebt ihre Brille auf der Nase hoch.

Gott, was würde ich dafür tun, dieses Mädchen auch nur einmal in ein Outfit zu stecken, das sie optisch von einer Kalksteinwand unterscheidet.

„Kommst du?" Pixie öffnet die Tür und schaut wieder fragend zu mir zurück.

„Jaha." Ich verdrehe die Augen, schultere meine Tasche und folge ihr in den Flur hinaus.

Es ist kurz vor acht Uhr am Morgen und die meisten Studenten, die uns auf dem Weg zum Hörsaal entgegenkommen, sehen ziemlich müde aus. In den letzten Wochen seit Semesterbeginn fanden beinahe täglich irgendwelche Willkommenspartys für Studienanfänger statt, zu denen selbstverständlich auch die älteren Semester erschienen sind. Das allgemeine Gähnen in den Gängen gibt zurzeit ein ziemlich einheitliches Bild ab, dem ich mich nur anschließen kann.

„Von wegen, die besten Plätze wären schon weg", sage ich und lasse mich auf einen freien Stuhl in den mittleren Reihen – unserem Kompromiss, was die Platzwahl angeht – fallen.

Pixie setzt sich kommentarlos daneben und holt pflichtbewusst ihre Unterlagen heraus.

„Willst du nicht erst abwarten, worum es in den ersten Stunden gehen wird?", frage ich und schiele auf das Sammelsurium an Stiften und anderen Utensilien, die sie aus ihrer Tasche fischt. „Ich weiß ja nicht, wie es bei dir so ablief, aber bei uns ging es am Anfang immer nur darum, den Dozenten kennenzulernen."
„Ich glaube nicht, dass wir so viel Zeit haben werden, schließlich hat der Kurs bereits mit dreiwöchiger Verspätung begonnen", gibt sie zu bedenken, öffnet den Block und schreibt das heutige Datum auf.

Ich zucke mit den Schultern. „Aber dafür können wir ja nichts."

Pixie schenkt mir einen abschätzigen Blick und holt bereits Luft, um etwas zu sagen, da höre ich von hinten meinen Namen: „Jinjin?"

Stirnrunzelnd drehe ich mich im Stuhl nach hinten.

„Jinjin Li-Sawyer?", höre ich die Stimme erneut, ehe ich die dazugehörige Person entdecke, die zwei Plätze schräg hinter mir sitzt.

Ungläubig öffne ich den Mund. „Henry?"

Ein strahlendes Lächeln erscheint auf seinem Gesicht und ich kann nicht anders, als es augenblicklich zu erwidern. Sofort steht Henry auf, nimmt seinen Rucksack und rutscht zwei Plätze weiter, die noch frei sind, sodass er direkt hinter mir sitzt.

„Ganz schön lange her, dass wir uns gesehen haben", sagt er, als wir beide simultan aufstehen, um uns über den Tisch hinweg zu umarmen.

„Zwei Jahre bestimmt. Seit du aufs College los bist, oder?"

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