Peter

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Peter beendete den Anruf mit einer Mischung aus Enttäuschung und Wut. Sein Bruder hatte ihm versprochen, nicht mehr zu trinken und dieses Mal hatte der Rückfall tatsächlich so lange auf sich warten lassen, dass Peter echte Hoffnung gehabt hatte, Chris würde es vielleicht schaffen. „Die Hoffnung stirbt zuletzt", presste er genervt hervor und machte sich auf den Weg. Er ließ alles in seiner Wohnung in St. Peter Port stehen und liegen und fuhr mit dem Wagen so schnell es die engen Straßen der Insel zuließen. Mit etwas Glück käme er noch vor Dunkelheit in der Bucht im Nordosten Guernseys an, wo sein Elternhaus stand und wo sein trunksüchtiger Bruder die Reste von dem zunichtemachte und versoff, was mal ihres Vaters Heim und Fischerboot war. Peter hatte das alles gründlich satt.

Die Anruferin, offenbar die Neue seines Bruders, hatte gejammert und ihm die Situation so dramatisch ausgemalt, dass Peter tatsächlich alarmiert genug war, um sich wieder einmal um Chris und seinen Scheiß zu kümmern. Der „Scheiß" wäre allerdings zuerst dran. So wie die Frau es geschildert hatte, war Chris offenbar seit Tagen nicht zu gebrauchen, das Boot war irgendwo in der Nähe des Strandes aufgesetzt und das Netz dahinter hatte sich Gott-weiß-wo verfangen. Peter seufzte und nahm sich vor, dass es das letzte Mal sein würde. Beim nächsten Mal würde er Ernst machen und sein Bruder könnte diesen Mist allein ausbaden. Endlich kam er um die letzte Kurve, hinter der der Blick auf die kleine Bucht und den Atlantik frei lag. Schon von Weitem sah Peter das Boot auf dem Schlick liegen. Das Wasser war wegen der Ebbe weit entfernt und es würde noch Stunden dauern, bis man das Boot freischleppen oder bergen könnte. Er würde Hilfe aus dem Ort brauchen. Das Sinnvollste war jetzt, sich den Schaden erst einmal anzusehen, damit er wusste, womit er und die Helfer es zutun bekämen.

Er fuhr mit seinem Geländewagen so dicht es ging an das Boot heran, dann machte er sich zu Fuß auf den letzten Rest des Weges. Die Sonne stand schon recht tief und glitzerte auf dem feuchten Schlick, als Peter sich der Havarie näherte. Er hielt die Hand über seine Augen, um gegen die Sonne etwas zu erkennen. Das Netz lag wie regennasser Umhang, dunkel und massig hinter dem Kahn. Der Gestank von Fisch, der darin bereits verrottete, drang stechend in Peters Nase und er unterdrückte einen Würgereflex. „Scheiße", fluchte er. Chris war schon immer unberechenbar, aber das hier war wirklich das Allerletzte. Der Fang musste elend krepiert sein, japsend und zappelnd. Ziemlich unwahrscheinlich, dass da noch etwas Lebendiges in dem Haufen aus totem Fisch, Seil und Seetang wäre. Trotzdem wäre es seine Aufgabe, als Erstes nachzusehen. Es kam nicht eben selten vor, dass sich ein junger Delphin in die Fischernetze verirrte und ein solches Tier hätte vielleicht noch eine winzige Überlebenschance.

Peter seufzte und würgte erneut, dann holte er sein Messer aus der Hosentasche, um, wenn es sein musste, das Netz zu zerschneiden. Als Sohn eines Fischers, hatte er so etwas immer bei sich. Seine Tritte im Schlick machten schmatzende Geräusche, doch da war noch etwas! Peter blieb stehen, um sicher zu gehen, dass er sich nicht täuschte. Er horchte ... Ja, da war ein leises Schnarren oder auch ein Laut, wie von rasselndem Atem. Er starrte auf das Netz. Wenn darin noch etwas lebte, dann müsste man sehen können, wo es sich bewegte. Vorsichtig ging er weiter heran, versuchte im Gegenlicht etwas zu erkennen, doch die Sonnenstrahlen verspiegelten den Schlick und blendeten ihn. Er blinzelte und kam näher. Da war etwas! Hell zeichnete sich eine Form in dem Netz ab, die aussah wie ... ein Arm, ein menschlicher Arm, eine Schulter, Rücken ... Im ersten Schreck der Erkenntnis kam ihm der Gedanke, dass es eine Wasserleiche sein müsste. Wie kam sonst ein Mensch in ein Fischernetz? Aber eine Leiche würde nicht rasseln und ... stöhnen. Oh Shit! Dieses Mal hatte Chris richtig was angezettelt!

„Hey, bleib ruhig, ich komme...", rief Peter dem Verletzten zu und eilte jetzt, so schnell er auf dem nassen Grund konnte, hinzu. Als er das stinkende Netz erreichte, kniete er sich hin und begann, die Seile zu durchschneiden.

„Halte durch."

Nun endlich konnte er mehr sehen und ganz offenbar hatte sich da ein Mann zwischen Fischen, Krebsen, Plastikmüll und Tang verfangen. Der Tang war seltsam. Als Peter weiter schnitt, sah er dass es die ungewöhnlich langen, schwarzen Haare des Mannes waren. Ohne zu zögern packte Peter ihn jetzt von hinten unter den Armen und zog ihn etwas aus dem Haufen der Fischkadaver hervor. Er sollte doch Luft kriegen. Der Mann war nackt und japste laut.

Die VerwandlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt