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Da war er.
Sportlich gebaut. Hellbraune kurze Haare. Schwarze Kleidung. 

Jeden Tag arbeitete er ohne Pause in einem Cafe. Als Waise hatte er keine Eltern, die ihn unterstützten. Er musste sich selber unterstützen. 
Jeden Tag beobachtete ich ihn von der Bank auf der anderen Straßenseite aus. Dies tat ich schon seit knapp zwei Jahren. Ich hatte schon einige seiner Ereignisse gesehen.
Abschluss. Umzug. Beziehungen. Trennungen.

Noch nie hatte er mich bemerkt. Dies lag wohl daran, dass ich für die Menschen unsichtbar war. Jedoch nicht für ihn. Es war aber leicht, jemanden zu verwirren und die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, wenn man von jeder Person in der Umgebung ignoriert wird. 

Irgendwann sollte ich ihn ansprechen und von meiner Mission erzählen, aber der richtige Zeitpunkt kam noch nicht. Wenn ich ihn überrumpelte, dann müsste ich ihn zwingen, mit mir mitzukommen, was ich allerdings vermeiden wollte. Deshalb beobachtete ich ihn aus sicherer Entfernung, um ihn besser kennenzulernen. Mein erster Eindruck von ihm ohne direkte Interaktion war sympathisch, auch wenn er zu naiv und manchmal auch zu verpeilt war. 

Es wurde dunkel, also hatte er bald Feierabend. Ich saß geduldig auf der Bank und wartete, bis die letzten Gäste das Cafe verließen. Nachdem er und zwei seiner Kollegen mit dem Aufräumen fertig waren, verließ auch er das Cafe. Jetzt hieß es nur noch schlafen gehen und auf den nächsten Tag warten. Es war Mittwoch, also ging er mit seinen Freunden nicht auf eine Party. Das passte nicht zu ihm, mitten in der Woche feiern zu gehen. 

Auf dem Weg zu seiner Wohnung folgte ich ihm durch die kaum beleuchteten Straßen. Sein Viertel war ein armes. Dies konnte man sich schon beim Anblick der Straßen und Häuser denken. Die weiße Farbe der Häuser mit den zahlreichen Graffitis blätterte an den Fassaden ab. Viele Fenster bestanden nur noch aus Holzbrettern, die  über eingeschlagene Glasscheiben genagelt wurden. Die wenigen Laternen auf den Gehwegen flackerten, falls deren Glühbirne noch nicht durchgebrannt war. 

Er betritt sein Wohngebäude, welches außen voller Graffitis war, nur hin und wieder erkannte man die eigentlich weiße Fassade. Die Graffitis hatte ich mir schon oft durchgelesen, da sowas für mich komplett neu war, als ich meine Mission antrat. Menschen waren interessante Wesen. Kein anderes Volk würde auf die Idee kommen, fremde Häuser mit irgendwelchen Sprüchen oder Zeichnungen zu verzieren. Den Sinn dahinter hatte ich immer noch nicht verstanden. 

Ich spazierte ein wenig, denn er sollte sich eigentlich hingelegt haben. Er legte sich jeden Abend auf sein Bett und beschäftigte sich für etwa eine Stunde mit seinem Laptop, ehe er einschlief.
 
Schlaf. Eine so wichtige Ruhepause für den Körper blieb mir leider verwehrt. Jeder meiner Träume ließ mich in die Vergangenheit oder Zukunft blicken. Allerdings gehörten die Ereignisse nicht immer mir. Oft waren diese auch nicht positiv, sondern voller Schmerz, Leid und Verlust. 
Der Schlafmangel machte mir nicht viel aus. Meine große Schwester Delia schickte mir durch Portale immer einmal im Monat einen Trank, den sie speziell für mich entwickelt hatte. Dieser Trank bewirkte, dass sich mein Körper bei Ruhepausen genauso sehr regeneriert wie beim Schlaf. Sitzen war für mich also wie Schlafen. 

Ein Schrei. 

Sofort sah ich mich um. 

Noch ein Schrei. 

Das waren keine menschlichen Schreie und sie kamen aus der Nähe seiner Wohnung.  

Ich rannte. 

Als ich ankam, sah ich, woher die Schreie kamen. Harpyien. Mischwesen mit einem geierartigen Vogelkörper und einem Frauenkopf. 
Instinktiv griff ich nach meinen beiden Katanas, die rechts und links an meiner Hüfte befestigt waren und holte sie aus ihren Schwerthaltern. 

Die Harpyien flogen um das Haus von ihm herum. Sie wollten ihn also auch. Dies ließ ich aber nicht zu. 

Ich pfiff den Harpyien zu, um deren Aufmerksamkeit zu erlangen, und es funktionierte. Die erste flog mit ihren großen Schwingen schnell auf mich zu. 

Ein erster Kopf rollte. Ein sauberer Schnitt. 

Vier weitere Köpfe rollten. 

Noch eine letzte Harpyie war übrig. 

"Was zum-?", hörte ich plötzlich eine tiefe Stimme.

Erschrocken sah ich mich um und da stand er an der Tür. Total entsetzt. Voller Furcht. 

Die Harpyie bemerkte ihn auch und machte ihn zu ihrem neuen Ziel. Blitzschnell änderte sie mitten im Flug ihre Richtung. 

Ich rannte und warf mich schützend vor ihn. 

Da rollte schon der letzte Frauenkopf. 

Etwas heißes nasses rannte meine Wange hinunter. Ich steckte meine Katanas zurück in ihre Halterungen und fasste mir leicht ins Gesicht. Als ich auf meine Hand sah, waren die Fingerkuppen meines Zeige-und Mittelfingers mit Blut. 

Wann hatte ich das letzte Mal geblutet? Ich wusste es nicht mehr. Anscheinend hatte ich unbemerkt meine Defensive vernachlässigt, als ich vor ihm stand. 

Als ich mich zu ihm drehte, sah ich, dass er sich fassungslos auf seine Knie fallen ließ und das lila Blut der Harpyien betrachtete, welches sich auf dem Boden zu großen Pfützen gebildet hatte. Ich wandelte das Blut mit einer Handbewegung zu Schattenfragmenten und presste es zu einem Schattenkristall zusammen, um es aufbewahren zu können. 

"W-was ist hier passiert?", stotterte er ohne seinen Blick zu heben. 

"Du hast es also gesehen?" Ich kniete mich zu ihm nieder und versuchte seinen Blick aufzufangen. Zum ersten Mal konnte ich seine Augenfarbe erkennen. Ozeanblau.  

Er fing an wie wild mit seinen Händen und Armen zu gestikulieren. "Ja natürlich! Gehört habe ich es auch! Diese lauten, schrillen Schreie!" 

"Du bist der einzige außer mir hier, der das gehört und gesehen hat", versuchte ich zu erklären. "Das waren Harpyien, du hast bestimmt schon was von diesen Wesen gehört. Blutrünstige Viecher."

Er biss sich auf die Unterlippe, während er verzweifelt in den klaren Himmel sah. Für einen Moment schloss er die Augen. Scheinbar versuchte er sich zu fassen. Als er seine Augen wieder öffnete, sah er mir direkt in die Augen. "Ich verstehe das nicht so ganz. Das muss alles ein Traum sein, aus dem ich gleich aufwachen werde."

"Nein, leider nicht." Ich stand auf und klopfte mir den Staub ab. "Mein Name ist Liah von Elsworth, Leibwächterin des dritten Königs von Ijoba, dem zweiten Königreich von Tidane und du Nicolas Harper musst mit mir kommen. Du schwebst nämlich in Lebensgefahr!" 

Schattentag - Das verbotene KindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt