Kapitel eins

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Erschöpft ließ ich mich auf die Stufen fallen. Das war die letzte Kiste. Ich unterdrückte ein Stöhnen. Seit acht Uhr morgens schleppten wir Kartons von oben nach unten durchs ganze Haus. Nun war es schon weit nach Mittag und wir hatten es endlich geschafft Elenas Krempel in unseren alten Kombi zu stopfen. Ich fragte mich wirklich, wo meine große Schwester dieses ganze Zeug all die Jahre über ansammeln konnte. Aber vermutlich ließ sich auf unserem Dachboden mehr verstauen als ich bisher angenommen hatte. Dabei beschwerte ich mich regelmäßig darüber, dass Elena dort wohnen durfte, während ich nur ein sehr kleines Zimmer abbekam, in dem man sich zwischen den Möbeln kaum bewegen konnte. Ich hätte mich also freuen können, dass sie auszog und mir somit ihr Dachzimmer überließ. Doch das konnte ich nicht. Ich musste schmunzeln, als ich an die unzähligen Male zurückdachte, in denen ich über Bücher und Jacken gestolpert war, die sie auf dem Weg in ihr Zimmer fallen ließ. Was hatte ich mich damals darüber aufgeregt. Damals... das klang so weit weg. Doch nun wünschte ich mir nichts Sehnlicheres als noch mal in diese Zeit zurückzukehren. Nie wieder würde ich über ihre Sachen steigen müssen. Bei diesen Gedanken stiegen mir die Tränen in die Augen und ich musste mit ihnen kämpfen, um nicht gänzlich meine Fassung zu verlieren, während ich daran dachte, dass unsere alltäglichen Streitereien nun zur Seltenheit werden würden. Auch wenn ich es mir nicht gerne eingestand, konnte ich mir ein Leben ohne meine große Schwester kaum vorstellen. Ich war ihr nicht einmal böse, dass sie so weit weg zog. Hamburg war nun einmal eine tolle Stadt und für ihre berufliche Zukunft sehr wichtig. Doch ich vermisste sie jetzt schon. Familie bedeutete mir sehr viel, vielleicht auch weil ich es nicht anders kannte. Trotz der Streitereien, die nun einmal unter Geschwistern dazu gehörten, liebte ich meine Schwestern.
Ein Zupfen an meinem Ärmel holte mich wieder in die Realität zurück und ich begriff, dass aus der Ruhe, in die ich mich kurz zurückgezogen hatte, ein hektisches Gewusel geworden war. „Merle, wann kommt Elena wieder?" Meine kleine Schwester schaute aus ihren großen Augen zu mir hoch. „Du weißt doch, dass sie nach Hamburg zieht, um dort zu studieren, Greti. Sie wird dort erst einmal für ein paar Jahre wohnen, so wie sie vorher bei uns gewohnt hat. Aber Elena wird uns bestimmt ganz oft besuchen kommen und wir fahren auch mal zu ihr." „Das will ich euch aber geraten haben!" Elena kam die Treppe hinunter und schaute uns wehmütig an. „Ich werde euch so vermissen, ihr beiden." „Und wir dich erst! Du wirst hier fehlen.", seufzte ich, während ich Greta auf meinen Arm hievte. Ich hatte ganz vergessen, dass Greta nicht mehr unser kleines süßes Baby war und mit ihren fünf Jahren nicht mehr dem Gewicht ein paar Federn entsprach. Aber zumindest war sie nun mit uns auf einer Höhe. „Gruppenkuscheln", quiekte sie fröhlich und streckte ihre kleinen Patschehändchen nach Elena und mir aus. Ich musste lachen und genoss in diesem Moment einfach noch ein letztes Mal unsere Dreisamkeit. Plötzlich tauchte Mamas Kopf an der Treppe auf. „Habe ich da was von Gruppenkuscheln gehört?" Elena begann zu grinsen und ich stimmte mit ein, als Greta heftig zu nicken begann und Mama mit zu uns in die Umarmung zog. Eine Weile standen wir so da. Niemand sagte ein Wort. Wir hätten vermutlich noch ewig so dagestanden und unseren Gedanken nachgehangen, wenn uns ein Autohupen nicht auf den unmittelbar bevorstehenden Aufbruch von Elena aufmerksam gemacht hätte. Stumm sahen wir uns an. Keiner konnte die Situation wohl richtig begreifen. Selbst meine kleine Schwester plapperte mal nicht fröhlich vor sich hin. Schließlich löste sich Mama als erste aus der Starre. „Pass auf dich auf." Ihre Stimme klang belegt, ganz anders als sonst. „Du bist hier immer willkommen. Wir lieben dich!"
Elena schniefte. „Ich liebe euch mehr!"
Dann drehte sie sich um und nahm ihre Jacke von der Garderobe, bevor sie die Tür öffnete und nach draußen lief. Wir folgten ihr auf die Straße, wo Elena schon zu Papa ins Auto gestiegen war. Papa hatte nämlich das Glück den Umzugswagen zu spielen und in ihrer neuen Wohnung beim Aufbau zu helfen. Ich beneidete ihn darum, noch mehr Zeit mit ihr verbringen zu können. Andererseits wusste ich aber auch, dass es den Abschied nicht leichter machen würde. Also blieb mir nichts Anderes übrig als es meiner Mutter und kleinen Schwester gleich zu tun und dem Auto hinterher zu winken, bis es um die nächste Straßenecke bog. Ich starte noch eine Weile auf den Fleck, an dem sie verschwunden waren. Selbst Mama und Greta waren schon ins Haus zurückgekehrt. Durch meinen Kopf schwirrten Gedankenfetzen, die sie nicht zusammensetzen ließen. Ich fühlte mich wie betäubt, wusste aber, dass dieses Gefühl wohl bald verschwinden würde. Bevor ich mich umdrehte, um ins Haus zurück zu gehen, hörte ich, wie sich die Tür des Nachbarhauses öffnete. Ich schnellte herum. Dieses Haus stand leer seit ich denken konnte. Sogar noch länger, den Erzählungen meiner Eltern zufolge. Noch nie hatten sie jemanden darin wohnen gesehen. Eine Frau trat heraus und blickte mich freundlich an. „Du musst dann wohl zu meinen neuen Nachbarn gehören? Ich heiße Nora Blum." Mein Gesicht muss wohl ziemlich erschrocken ausgesehen haben, denn Frau Blum schaute mich nun unsicher an. Sofort fing ich mit mich wieder. „Entschuldigung. Mein Name ist Merle und ja, ich gehöre zu Familie Sommer. Ich wusste ja gar nicht, dass dieses Haus jemals jemand bewohnen würde." Sie lächelte mich traurig an. „Ja, ich hätte das vor ein paar Monaten auch noch nicht erwartet." Sie ließ ihren Blick schweifen, bevor sie ihn wieder auf mich legte. „Ich muss jetzt los, aber wir werden uns wohl demnächst öfter sehen. Grüß deine Eltern. Ich werde mich ihnen dann aber auch noch persönlich vorstellen, wenn ich in ein paar Wochen eingezogen bin." Mit diesen Worten ließ sie mich verdutzt stehen. Was hatte sie nicht erwartet? In einem Haus zu wohnen, dass offensichtlich von jeglichen Personen gemieden wurde? Wieso zog sie dann dort ein? Und warum konnte sie mich sofort zuordnen? Mein Gehirn lief auf Hochtouren, wollte mir aber auf diese Fragen vorerst keine Antwort geben. Verwirrt machte ich mich zurück in mein Zimmer. Nachher würde ich meine Mutter wohl mal dazu ausquetschen müssen...

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