„Nein, sie kommen mir nicht ins Schloss!" Die Stimme von König Almir von den schroffen Landen verriet Mirnas, dass er nicht den Hauch einer Chance hatte, seinen Vater umzustimmen und nicht erst seine Zeit damit verschwenden sollte, es zu versuchen. Und trotzdem hörte er nicht auf diese Stimme und blieb beharrlich. „Aber Vater", hob er an und wurde sofort unterbrochen. „Nein! Nichts da! Keine Fremden! Sie nehmen sich, was sie finden können. Stehlen, huren und dann sind sie fort und scheren sich nicht darum, was sie zurücklassen. Bälger mit dunkler Haut und fremdländischen Augen. Verzweiflung und Schande. Es ist das kurze Vergnügen nicht wert. Das Tor bleibt zu. Die Leute bleiben draußen! Das ist mein letztes Wort!" Und es war wirklich sein letztes Wort in dieser Sache, denn selbst wenn Mirnas weitergebettelt hätte, der König hätte ihn nicht mehr gehört. Mit wehendem Umhang war er durch die Tür in seine Privatgemächer verschwunden und hatte diese mit einem deutlichen Krachen hinter sich ins Schloss fallen lassen. Die Geste sprach genauso deutliche Bände wie die Worte des Königs. Und nur zu gut wusste Mirnas, dass das Wort seines Vaters galt und endgültig war. Warum auch hätte heute etwas anders sein sollen? Nur, weil er es sich so wünschte? Er war mit seinen sechzehn Jahren inzwischen alt genug, sich keinen kindischen Träumereien mehr hinzugeben, sondern der Realität ins Auge zu blicken. So schmerzhaft diese Erkenntnis am Ende auch sein mochte, er würde auch heute keine akrobatischen Aufführungen zu sehen bekommen.
Aber etwas war dennoch anders gewesen: Die Deutlichkeit in den Worten seines Vaters war neu. Er hatte ihm einen ernstzunehmenden Grund geliefert, weshalb er die Fremden nicht auf dem Schlossgelände haben wollte. Stehlen und huren - Mirnas war alt genug, um zu wissen, wovon sein Vater gesprochen hatte. Von Schandbälgern, wie es in der Stadt zu Hauf welche gab. Kinder, die ohne einen Vater aufwuchsen, großgezogen von Frauen, die nicht verheiratet waren und es auch nie sein würden. Frauen, die keine Sicherheit genossen und mit Verachtung gestraft wurden, für die Schande, die sie über sich und ihre Familie gebracht hatten und den Kindern jede Chance auf eine gute Zukunft nahmen. Er hatte schon viele solcher Kinder bettelnd auf dem Platz vor dem Tor gesehen und sie hatten ihm leidgetan. Manchmal hatte er sogar seine Vorräte aus der Küche über die Mauer geworfen, anstatt sie an die Ziegen, Enten und Gänse zu verfüttern.
Trotz aller Einsicht konnte Mirnas nicht verhindern, dass sich Tränen in seine Augen schlichen. Tränen der Wut und der Enttäuschung, die bitter in seiner Kehle brannten und die er verbissen, aber erfolglos zurückzudrängen versuchte. Er war kein kleines Kind mehr, das heulte und auf den Boden stampfte, wenn er etwas nicht bekam. Mit glasigem Blick starrte er auf die geschlossene Tür mit den kunstvollen Verzierungen, die ein herumreisender Künstler vor vielen Jahren eingeritzt hatte, damals als Besucher noch willkommen geheißen wurden. Ihm war mit einem Mal als würde die Tür ihn regelrecht verhöhnen. Du wirst auch heute keine Aufführungen zu sehen bekommen. Du wirst nie eine Aufführung zu sehen bekommen. Selbst ich habe unzählige Aufführungen gesehen. Du nicht. Und du wirst es auch nie, schien sie ihm geradezu ins Gesicht zu schleudern. Mirnas schluckte. Entschlossen wischte er sich die Tränen von den Wangen und schaute sich verstohlen im Saal um. Die anwesenden Bediensteten hatten sich längst wieder ihren Tagesaufgaben zugewandt und keiner schenkte ihm Beachtung. Das Betreten der Privatgemächer seines Vaters war ihm strengstens verboten. Kurz überlegte er, sich über dieses Verbot hinwegzusetzen. Seinem Vater zu zeigen, wie ernst es ihm war. Ihm klarzumachen, wie sehr er diese Fremden sehen wollte und dass er sich nicht länger von ihm vom Leben fernhalten lassen würde, so wie sein Vater ihn von diesen Räumen fernhielt. Für einen kurzen Moment erschien ihm die Lösung auf der Hand zu liegen, zum Greifen nahe, so als müsste er nur durch diese Tür schreiten, um zu bekommen was er wollte. Er hob die Hand, streckte sie nach dem gusseisernen, kunstvoll geschmiedeten Griff und wollte schon danach fassen, besann sich dann aber doch eines Besseren und ließ die Hand auf halber Höhe wieder sinken. Es war der falsche Weg. Im wahrsten Sinne des Wortes. Es würde ihn nur tiefer hineinführen in dieses dunkle Schloss, in den düsteren Bereich, den sein Vater bewohnte und in dem er jeden Quadratmeter der Erinnerung an seine Mutter gewidmet hatte. Ihren Schmuck, ihre Bücher, sogar ihren Kleiderschrank mitsamt dem Inhalt, unzähligen Festtagsroben und Ballkleidern, Umhängen und Ausgehkleidern, hatte er aufbewahrt, obwohl sie längst nicht mehr nach ihr rochen. Ihre Portraits und Gemälde zierten die Wände. Selbst wenn Mirnas das Betreten erlaubt wäre, er hätte es keine Minute in diesen Räumen ausgehalten. Zu schmerzhaft war der Verlust, auch wenn er seine Mutter nie gekannt, und gar nicht wissen konnte, was er an ihr verloren hatte. Ein Schmerz und eine Erinnerung, der sich sein Vater jeden Tag und jede Nacht aufs Neue hingab. Nein, durch diese Tür zu gehen, war der falsche Weg. Mirnas drehte sich auf dem Absatz seiner Lederstiefel um und eilte auf der gegenüberliegenden Seite durch die schlichte Holztür auf den Dienstbotengang. Vorbei an Speisesaal und Küche, wo er dieses Mal nicht Halt machte, um nach Überresten zu fragen. Vorbei am Musikzimmer und Ballsaal, die er ohnehin nie betrat und in denen seit Jahren weiße Laken aufgespannt waren, um die Möbel vor dem Zahn der Zeit zu beschützen. Aber wer beschütze ihn vor dem Zahn der Zeit und davor, mit der Zeit selbst in Vergessenheit zu geraten, wie die alten Instrumente, an die keiner mehr dachte? Manchmal fühlte er sich, als wäre er ein kostbares Möbelstück, dem man ein Stück Tuch übergeworfen hatte, um ihn vor Verschmutzung und Verfall zu bewahren. Um den Staub des Lebens von ihm fernzuhalten. Wollte er denn überhaupt davor beschützt werden? Wenn es nach seinem Vater ging, war das das Wichtigste überhaupt. Aber wollte er das auch? Was würde er sagen, wenn man ihn nach seiner Meinung fragte? Er würde sagen, dass er die Aufführung der Fremden sehen wollte. Nur einmal sehen, was sie darboten. Mehr nicht. War ein Blick zu erhaschen so gefährlich? Er würde auf sich und seinen Besitz aufpassen. Sie würden ihn schon nicht bestehlen. Er trug ohnehin nichts Wertvolles bei sich. Und herumhuren würde er auch nicht. Die Vorstellung erschien ihm dermaßen lächerlich, dass er ein Grinsen nicht unterdrücken konnte, obwohl er einen Augenblick zuvor noch verbittert und wütend gewesen war. Auf seinen Vater und auf seinen Alltag, aber vor allem darauf, was dieser ihm alles in seinem Leben verwehrte.
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Das Gold der weiten Welt (Leseprobe)
Teen Fiction✯✦✩ Wie ein Gefangener im goldenen Käfig lebt Prinz Mirnas abgeschieden von der Welt, streng behütet von seinem Vater. Die Welt außerhalb der Schlossmauern erscheint dem jungen Prinzen immer begehrenswerter. So dass er es schließlich keinen Tag läng...