1) Das Tor bleibt zu

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Teil I) G e f a n g e n   i m  g o l d e n e n  K ä f i g


Kapitel 1) Das Tor bleibt zu

Lasst mich euch eine Geschichte voller Abenteuer und unglaublicher Begebenheiten erzählen.

Es war einmal - so beginnen Märchen und so beginnt auch diese Geschichte. Warum sollte sie es auch nicht tun? Geschichten müssen nun einmal mit dem ersten Satz beginnen. Und aus Gründen der Einfachheit beginnt meine Geschichte mit diesem Satz.

Es waren einmal ein Vater und sein Sohn, die lebten gemeinsam auf einem Schloss. Und wer jetzt ein Märchen erwartet, der irrt. Märchen haben ein gutes Ende. Es wäre langweilig und nicht sinnvoll, euch jetzt schon zu verraten, dass diese Geschichte ein gutes Ende haben wird.

Was ich euch allerdings verraten kann, ist folgendes: Sie wird ein Ende haben. So wie alle Geschichten ein Ende haben. Aber erwartet nicht, dass es lautet: Und sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage. So mag es im Märchen zugehen, aber selten im echten Leben. Und das Leben schreibt mitunter die besten Geschichten. Zugegeben, für die Beteiligten mag es nicht immer schön sein, dies alles zu erleben, aber für den unbeteiligten Leser bietet es ungeahnten Genuss, sich an den Leiden eines armen Helden zu ergötzen.

Wie auch immer, viel wichtiger als der Anfang und das Ende einer Geschichte ist doch das, was dazwischen steht. Die Geschichte selbst und was in ihr passiert.

Es ist üblich, dass es in Märchen, wie im Leben gute und böse Menschen gibt. Und ich kann euch an dieser Stelle schon verraten, dass das hier auch nicht anders sein wird, aber vielleicht zeigt sich nicht sofort, wer zu welcher Seite gehört und es ist gut möglich, dass jemand im Laufe der Geschichte die Seiten wechselt. Und erwartet auch nicht, dass hier das Gute über das Böse siegt. Erwartet einfach gar nichts, außer unterhalten zu werden. Denn das ist der Sinn einer jeden guten Abenteuergeschichte. Und dass es eine gute Geschichte ist, die ich erzählen werde, das möchte ich doch hoffen.

Genug der Worte. Lassen wir das Abenteuer endlich beginnen. Kommen wir nun zurück zu dem Vater und seinem Sohn, die in einem Schloss leben. Ach, was rede ich da? Der Worte sind es noch lange nicht genug. Schließlich fängt die Geschichte ja gerade erst an.

Es ist ein prächtiges Schloss und wer es das erste Mal sieht, kann gar nicht anders, als die in der Sonne glänzenden Dächer der Türme und Erker zu bewundern, die hoch über die Stadt hinausragen. Es ist auch gut so, dass die Türme die Dächer des Städtchens und die Mauern, die das Schloss umgeben, überragen, denn sonst könnte es passieren, dass ein Besucher überhaupt nichts von dem schmucken Gebäude erkennen kann. Die meisten Besucher können seine eigentliche Schönheit nur hinter den Mauern und Toren erahnen. Schon seit Jahren verbietet der König, dass Besucher den Schlosshof betreten dürfen. Das Tor ist geschlossen und bleibt es. Nur die ältesten Bewohner der Stadt erinnern sich noch, dass es einst Tage gab, an denen ein Markt auf dem weitläufigen Schlossgelände abgehalten wurde, zu denen viele Besucher aus nah und fern kamen. Musikanten spielten fröhliche Weisen auf ihren Lauten und Sackpfeifen. Junge Mädchen und Burschen tanzten ausgelassen zu deren Melodien und manch alte Jungfer und manch alter Junggeselle wippte schüchtern im Takt. Es waren bunte, laute und turbulente Tage gewesen, an denen man sich an den dargebotenen Waren und vorgetragenen Kunststückchen erfreuen hatte können.

Aber die Musik der Instrumente, das laute Feilschen der Handelnden und das Lachen der Schaulustigen waren längst verstummt. Seit dem Tag der Geburt des jungen Prinzen hatte es keine Markttage mehr gegeben. Und manche Dienstmagd munkelte, dass es seitdem überhaupt keinen glücklichen Tag mehr auf dem Schloss gegeben habe. Für ein neues Leben musste ein altes Leben gehen, lautete eine Binsenweisheit unter den Bewohnerinnen des Dorfes. Dass bei diesem neuen Leben, ausgerechnet das Leben der Mutter der Preis gewesen war, war nichts Ungewöhnliches, auch nicht in adeligen Kreisen. Ein trauriger Umstand des Schicksals, wenn auch kein Einzelfall. Dass die Mutter die Geburt eines Kindes nicht überlebte, geschah zu Hauf landab und landauf.

Das Gold der weiten Welt (Leseprobe)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt