Es war kalt als er die menschenleere, asphaltgraue Gasse in Richtung der spärlich beleuchteten Hauptstraße durchquerte. Die Kälte durchdrang selbst seinen dicken Wintermantel. Der Herbst hatte in der letztenWoche langsam, aber stetig, begonnen. In der Garage, in der er einmal in der Woche Obst und Gemüse verkaufte, hatte er den alten, kaum funktionierenden Heizstrahler aus dem Hinterzimmer hervorräumen müssen. Nach fünf Stunden Arbeit waren seine Hände fast erfroren, weshalb er sie in seinen Taschen verbarg um Erfrierungen zu vermeiden, schließlich war die Temperatur auf winterliches Niveau gesunken und die Herbstsonne weigerte sich den Tag wenigstens ein bisschen zu erwärmen.
Der junge Mann schaute vom Boden auf und hielt inne um das Lichtspiel des Sonnenuntergangs zu beobachten. Dunkles Orange am Boden mit herauswachsenden, rosaroten Schwirlen nach oben in das immer dunkler werdende Blau des Abendhimmels. Etwas, das sich zu malen lohnen würde.
An diesem Tag wares das erste Mal, dass er inne halten konnte. Der Freitagabend war seine einzige Zuflucht. Überall wurde er unter Druck gesetzt. In der Schule sprachen seine Lehrer nur noch vom anstehenden Abitur im nächsten Jahr, seine wenigen Freunde nur von den Trinkgelagen des nächsten Wochenendes und die Eltern... Ers chloss die Augen und schüttelte den Kopf. Die Eltern, die nur noch mit ihm das Gespräch suchten, wenn sie ihn an die Enttäuschung, die er für sie war, erinnern wollten.
Langsam setzte er sich wieder in Bewegung, denn es erschien ihm doch sehr merkwürdig regungslos in der Mitte einer dunklen Gasse stehen zu bleiben. Eigentlich widerstrebte es ihm sein zu Hause aufzusuchen, doch bevor er an einem der unnötigen Trinkgelage teilnahm, würde er wenigstens noch seine Schulsachen zu Hause abliefern müssen. Eigentlich war es kein wirkliches zu Hause. Schon lange nicht mehr. Seit dieser einen Nacht Ende August, als er von einer Feier zurückkam und sein Bruder nach 20 Jahren endlich beschlossen hatte seine eigenen Wege zu gehen. An diesem Punkt hatte er begonnen die Tage bis zu seiner Volljährigkeit zu zählen.
Als er nach dem Sommer sein letztes Schuljahr anfing, war alles anders und er hatte das Gefühl dies zu lange ignoriert zu haben. Er hätte gerne mit jemandem über seine Gefühle gesprochen, doch es schien nie der richtige Augenblick zu sein. Außerdem war es auch nicht seine Art jemand anderen mit seinen Problemen zu belasten. Dazu war es ihm unangenehm mit anderen zu sprechen. Nicht weil er unsicher, oder gar schüchtern war. In seinen Augen gab oft einfach keinen Anlass zu sprechen. So saß er oft still daneben und hörte zu, was die Anderen sagten.
Er bog von der Hauptstraße in die kleine Seitenstraße, die zu dem Haus seiner Eltern führte, ab. Sein Herzschlag beschleunigte sich und seine Brust wurde ihm zu eng. Er hasste es zurückzukehren. Das Haus fühlte sich an wie ein Gefängnis, nicht nur physisch sondern auch psychisch. Mittlerweile konnte er kaum noch schlafen. Die Enge schnürte ihm des Nachts die Luft ab und wenn er es schaffte zu träumen, schreckte er schweißgetränkt aus seinem Schlaf auf. Wieder und wieder ertrank er in einem Meer von Selbstzweifeln oder fiel von hohen Klippen auf den kalten harten Boden um elendig und alleine zu verrecken. Die Angst hatte von ihm Besitz ergriffen und verließ ihn nie ganz.
Das moderne weiße Haus am Ende der Straße wirkte steril und so neu, dass es unbewohnt schien. Der Vorgarten, den er durch das schwarze Eisentor betrat, bestand aus grünem Auslegerasen, der von einer dunkelgrünen, jetzt schon fast kahlen, Hecke umrandet wurde. Alles in allem, ein Spießergrundstück. Das Erdgeschoss war hell erleuchtet, die Eltern dinierten wahrscheinlich gerade, wie immer um diese Zeit. Eine Sache, bei der er nicht willkommen war, anders als sein Bruder. Vor der grauen Haustür angekommen, beeilte er sich seinen Schlüssel in seiner Tasche zu finden, denn je schneller er im Haus war, desto schneller würde er es wieder verlassen können. Doch noch bevor er ihn gefunden hatte, öffnete sich die Haustür und seine Mutter stand darin. Sie hatte lange blonde Haare, kein einziges Anzeichen von grau. Auch Ihr Gesicht sah, dank Botox, jung aus. Die Mutter war die typische Hausfrau. Unterwürfig und submissiv dem Vater gegenüber, an das Patriarchat gewohnt. „Rassmus, kommst du bitte ins Wohnzimmer? Dein Vater und ich möchten etwas mit dir bereden." Überrascht schaute er sie an und versuchte herauszufinden worum es sich hier handelte, doch er konnte sie nicht durchschauen, also nickte er und folgte ihrer Gestalt ins Wohnzimmer. Ihr Blick hätte sowieso keinen Widerspruch erlaubt.

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Lange Reise durch die Nacht
Historia CortaRassmus zählt die Tage bis zu seinem achtzehnten Geburtstag. Nicht mehr lang, dann kann er endlich ausziehen. Ab in die weite Welt und sich nicht mehr verstellen und verstecken. Doch als Geheimnisse zu Tage kommen, muss er seine Pläne früher umsetze...