Frankfurt

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Der ICE, mit dem er nach Hamburg fahren würde, stand schon bereit. In Hamburg würde er in den Regionalexpress nach Neumünster und schließlich in den nach Flensburg umsteigen. Es würde eine lange Nacht werden. 

Als er in den Zug stieg, bemerkte er, dass dieser nicht zu voll war. Ein gutes Zeichen für ihn, da er keinen Sitzplatz reserviert hatte. Nach kurzem Suchen entdeckte er schließlich ein Viererabteil, in dem nur drei Plätze reserviert waren. Rassmus beschloss, dass er zu faul war einen isolierteren Platz zu suchen und setzte sich daher auf den Fensterplatz und pfefferte seine Tasche achtlos unter den kleinen Tisch. 

Erneut nahm der junge Mann Kopfhörer und Mobiltelefon aus der Tasche. Das Gespräch mit Steffen hatte ihn ausgelaugt. Ein zweiter Satz Eltern, bei denen er nicht ausschließen konnte, dass sie denEltern seines Bruders ähnlich waren, eine große Schwester und ein, naja, Schwager? Wie groß war wohl die Chance das alles in einem Zug während seiner Flucht zu finden? Winzig. Es war ja auch eine absolut absurde Situation. Rassmus betrachtete die Visitenkarte etwas genauer. Steffen Mertensen, Supervisory Board Member, stand auf der Karte, die das Logo einer Bank trug. Etwas hielt ihn davon ab sie weg zu werfen, schließlich war die Karte seine einzige Verbindung zu einer Familie, die er nicht kannte. Eine Familie, die ihn wahrscheinlich genauso hassen würde wie die andere. Eigentlich wollte er nur zu seinem Bruder, dessen Stimme erneut hören.

Langsam setzte derZug sich in Bewegung. Der junge Mann lehnte sich in seinem Sitz zurück. Bis Hannover würden seine drei Sitznachbarn nicht zusteigen, weshalb er noch ungefähr zwei Stunden für sich selbst hatte. 

Er drehte sich in Richtung des Fensters und blickte in das hell erleuchtete Frankfurt. Die Stadt war ihm immer zu groß, zu falsch erschienen. Sie war zu voll, aber die Anonymität brachte nicht nur schlechtes mit sich. Jedoch war Frankfurt für seinen Geschmack zu nah an seiner Heimat. Er seufzte leicht als sie die Lichter hinter sich ließen, der Zug an Fahrt gewann und durch das Niemandsland auf Hamburg zusteuerte. Niemandsland für einen Niemand. Hätte er die Wahl, würde er weit weg ziehen. Verlassen von jeder Zivilisation am Ende der Welt leben. Dann hätte er vielleicht Ruhe von den hasserfüllten Kommentaren, den merkwürdigen Blicken und eventuell sogar von seinen Gedanken. Ein schöner Traum. Doch der junge Mann war schon immer ein Pessimist gewesen und wusste, dieser Traum würde sich nicht erfüllen.

Rassmus verlor sich in Gedanken an die Zukunft. Er sah die Situation realistisch. SeinAufenthalt in Flensburg konnte nicht von Dauer sein, zu Hause gab es noch soviel unabgeschlossenes, das er noch beenden musste. Sein Abitur zum Beispiel. Es wäre idiotisch die Abiturprüfungen nicht zu schreiben. Jetzt, da er es sowieso fast geschafft hatte. Bis zu den Prüfungen war es nur noch ein halbes Jahr, dann war es vorbei. Rassmus könnte zwar in drei Monaten legal die Schule wechseln und nach Flensburg ziehen, doch es wäre eine sinnlose Unternehmung, auch unter der Sichtweise, dass die Bildungspläne komplett verschieden waren. 

Draußen war es mittlerweile so dunkel, dass er im Fenster nur noch sein Spiegelbild erkennen konnte. Rassmus fand, dass er müde wirkte. Älter, als er eigentlich war, ausgelaugt und ausgebrannt. Es fühlte sich jedoch nicht richtig an zu schlafen, wenn er noch so viel zu planen und im Kopf herumgehen hatte. Rückblickend wäre es vielleicht besser gewesen seine Flucht besser, länger zu planen, doch die Panik war in seinem Kopf festgesetzt gewesen und hatte ihn auch jetzt noch nicht ganz losgelassen. 

Zu realisieren, dass er niemals wieder in sein Kindheitsheim zurückkehren konnte, zerbrach ihn fast innerlich. Nie wieder würde er bei Gewitter im Zimmer seines Bruders schlafen können, wie er es als kleiner Junge getan hatte und in letzter Zeit wieder begonnen hatte. Nie wieder würde er über den Gartenzaun in den Garten des besten Freundes seines Bruders, der mittlerweile in Hannover studierte, springen können. Nie wieder würde er mit den Eltern zusammen unter einem Dach leben können, denn für sie war er eine Abnormität. Weniger als ein Mensch. Ein undankbares Monster, das ihren letzten Schimmer eines Familiengefüges gestohlen hatte. 

Rassmus war überrascht als er Nässe auf seinen Wangen spürte. Er hatte nicht bemerkt, dass er angefangen hatte zu weinen, doch es machte ihn irgendwie froh, da es seit einer langen Zeit die ersten Emotionen waren, die er zeigte, weshalb er begann zu lächeln.So wenig er wusste wann er begonnen hatte zu weinen, so wenig realisierte er es als er in den Schlaf hinüber glitt.

Lange Reise durch die NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt