Er drückte die Stirn gegen seine zerkratzten Handoberflächen und brummte grimmig: "Die Welt ist nicht mehr die, die sie mal war. Blutsauger nähren sich von den Schwachen, Flusslinge ziehen spielende Kinder in die dunklen Tiefen der Gewässer, und hoch im Norden verwüsten Trolle ganze Dörfer und gar Städte. Du wirst es nicht glauben, aber das ist erst der Anfang. Basilisken und Hydras, sogar Wyvern, manche sprechen bereits von der Rückkehr der Drachen, noch dazu dem Ende von Raum und Zeit!"
"Ich sage dir, mir läuft ein kalter Schauer den Rücken hinab, wenn ich nur daran denke, was sich in den Sümpfen finden lässt. Ich spreche von Sumpfkerlen, Waldgeißeln, Ghulen und Wendigos. Möge Itinianos sie für ihr abscheuliches Wesen strafen! Es fühlt sich wie ein Traum an, wenn ich an meine Kindheit zurück denke. Wir, dein Onkel und ich, konnten damals noch ohne zu Zögern den Fuß vor die Tore der Stadt setzen, ohne dabei von einem Goliathus oder einer Kentaurenameise angefallen zu werden."
"Wir konnten noch am Fluss fischen gehen, ohne dass deine Großeltern sich Sorgen machen mussten, dass wir nicht mehr auftauchen. Heute können sich Bauerneltern glücklich schätzen, wenn noch ein Fuß oder zumindest der Schuh ans Flussbett geschwemmt wird. Man könnte meinen, dass wir hinter unseren dicken Mauern sicher wären, aber glaub mir, wenn ich dir sage: dem ist ganz und gar nicht so."
"Du musst begreifen, dass es schrecklichere Kreaturen gibt als Gespenster und Riesen, Kreaturen, vor denen wir uns Tag und Nacht fürchten müssen...", sprach der alternde Mann mit braunem Bart und langem Haar, während er von seinem aus dunklem Holz geschnitzten Schreibtisch aufstand und die im ganzen Raum verteilten Schriftrollen aufsammelte, um sie zurück in das hohe Regal voller verstaubter Bücher zu legen. Nach einer kurzen Denkpause fuhr er fort: "Mehr noch als vor den Kreaturen außerhalb der Mauern, nimm dich vor den Unseresgleichen in Acht."
"Ich verspreche dir, nirgendwo, nicht einmal in den tiefsten Wäldern der Elfen, wirst du ein solch abscheulich und grausames Wesen wie den Menschen treffen. Keine andere Kreatur giert mit so viel Hass und Verachtung danach, sich auf Kosten anderer zu bereichern. Sie sehnen sich stets nach Macht, und egal wo du dich hinsiehtst, alle hier begehren meinen Thron zu besteigen und über mein Königreich zu herrschen!"
Sein Ton wurde lauter und er stand an der Grenze zum Brüllen, fast schon die Fassung zu verlieren, während sein blasses und faltiges Gesicht blutrot anlief. Der athletische, aber im Moment äußerst gebrechlich erscheinende Mann stütze sich am Bücherregal ab, strich sich durch die welligen Haare und stieß ein leises Stöhnen aus. Er dürfte nicht älter als fünfunddreißig Jahre alt sein, und doch erschien er teilweise wie ein Greiß, mit seinem faltenüberzogenem Gesicht und den zahllosen grauen Strähnen im Haar. Er war zwar kräftig gebaut, doch auch das konnte den beinahe gebrochenen Mann, der er im Inneren war, nicht verstecken.
Er trat einige Schritte zur Seite, wobei er versuchte nicht die Kontrolle über seinen Körper zu verlieren, um vor den hohen Balkon zu treten, der ihm einen Blick über seine gesamte Stadt ermöglichte, von den prächtigen Häfen im Osten, bis zu den grünen Gärten der Tempel im Westen. Der kühle Sommerwind blies ihm an diesem Morgen ins Gesicht, während er noch die Grünfinken von den Schlosstürmen zwitschern hörte als am Horizont bereits die Umrisse der Sonne zu erkennen waren.
Er stand öfters vor Sonnenaufgang auf, denn zum einen genoss er die freie Zeit, in der er frei von Pflichten und Aufgaben sein konnte, aber auch der Gesang der Vögel lockte ihn jeden Tag aus dem Bett. Um sich vor der aufgehenden Sonne nicht blenden zu lassen schloss er die Augen und kostete den Moment aus, doch er konnte es sich nicht verkneifen, weiterzusprechen:
"Keine Straße dieses Kontinents ist mehr sicher, überall lauern entweder Nekroide oder Gauner, die danach dürsten hilflosen Wanderern und fahrenden Händlern die Kehle aufzuschlitzen. Auch die Städte sind unsicher, denn im Untergrund gibt es alle möglichen Banden und kriminelle Organisationen, Vereinigungen des größten Abschaums der Gesellschaft."
"Doch die Scheusale begrenzen sich nicht nur auf die Kanalisation, sogar an meinem Hof gibt es zahlloses Gesindel. Sie fressen von meinen Speisen und ergötzen sich an meinem Wein, und doch wagen sie es, hinter meinem Rücken Intrigen zu spinnen und meine Besitztümer heimlich unter ihren Söhnen aufzuteilen." Er öffnete die Augen und drehte sich um, den Blick auf die hölzerne Kinderwiege, die am anderen Ende des kleinen Schlafzimmers stand.
"Im Krieg sterben Menschen, damit kann ich mich bereits abfinden, an Hunger sterben Menschen, damit muss ich leben, manche erliegen an Krankheiten, daran kann ich nichts ändern, doch im Norden werden unschuldige Magier auf dem Scheiterhaufen verbrannt, wie Tiere abgeschlachtet, aufgrund ihrer Fähigkeiten gejagt und vertrieben... ", flüsterte er während es ihm vor Ekel die Sprache verschlug, bevor er sich dem Kind näherte.
Das zarte Gesicht seiner neulich geborenen Tochter zauberte ihm ein Lächeln auf das Gesicht, und er konnte sich die Tränen nicht verkneifen, als er sich über sie lehnte und murmelte: "Versprich es mir Kleine, versprich mir, dass du dich vor den Menschen in Acht nimmst, vor all denjenigen, die dir Übles wollen. Bleib immer vorsichtig." Er erwartete von einem Säugling keine Antwort, aber er hätte sich eine gewünscht. Ohne weitere Worte zu verlieren schlich er durch die massive Holztür aus dem Raum und flüsterte beklommen: "Die Welt ist nicht mehr die, die sie mal war..."
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Ein Lied der Ewigkeit
Fantasy[PAUSIERT] "Ich nehme an, du willst wissen, warum ich sie getötet habe..." Als junge Prinzessin eines wohlhabenden Königreiches lebt Emeline ein Leben in Glanz und Pracht, doch nach einem blutigen Abend ändert sich ihr Leben und sie muss sich auf d...