(Un)Gewissheit

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//TW: Tod, Gewalt an Kindern (erwähnt), Mobbing (erwähnt)

//CN: Mörder (erwähnt)

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"Ich habe auf dich gewartet". 

Ich blicke die alte Frau an. Eine alte Dame, mit grauen Harren und einem herzerwärmendem Lächeln. Ich lächle zurück. 

"Ich hatte noch zu tun", halte ich lächelnd dagegen. Eine Träne rollt mein Gesicht runter, straft mein Lächeln Lügen. "Ist mein Sohn auch schon da?"

"Nein. Er wird dir hoffentlich noch lange nicht folgen können. Irgendwann wirst du ihn wiedersehen. Er wird dir alles erzählen. Jetzt bleibt uns erstmal nur,  dich zu deinem Haus zu bringen." Die alte Dame deutete einen Pfad entlang, der einige hundert Meter weiter an einem roten Backsteinhaus endete. 

Ich nicke, verstehe, akzeptiere. "Wird er da auf mich warten, oder kommt er mich irgendwann holen?", frage ich die Frau zaghaft. Ihre Präsenz beruhigt mich, lässt mich gar ein wenig müde werden. Nimmt mir den Schmerz, den ich die letzten Jahre mit mir getragen habe.

"Er?" Ihre Augen funkeln mich vergnügt an, als würde sie sich in ihrem Inneren über etwas amüsieren, dass niemand außer ihr je verstehen konnte. 

"Der Tod", erläutere ich nur knapp.

Anstatt zu antworten, läuft sie schweigend weiter auf das Haus zu. Eine weiße Taube setzt sich von dem Dach des Hauses ab, setzt sich auf ihre Schulter, fixiert mich. Aus der Tür des Hauses rennt ein Eichhörnchen zu ihr, klettert gar an ihr hoch. 

Als wir das Haus erreichen, sehe ich, dass viele Tiere in dem Haus gemeinsam beieinander liegen, sich gegenseitig Wärme spenden. Sie alle deuten eine Art dankbare Verneigung an, als sie die alte Frau erblicken. Eine nie dagewesene Ehrfurcht ergreift mich. Ein Reh erhebt sich, kitzelt mich bei dem Versuch, meinen Bauch mit seiner Nase anzustupsen.

"Du kannst", fängt die Dame mit einer Gebogenheit in der Stimme an, die an einen Kaminabend im Winter mit warmen Tee und Orangenduft erinnert, "Hier auf deinen Sohn warten. Meine Haustiere werden sich um dich kümmern, wenn ich den nächsten Seelen Frieden bringe."

Ich bin überfordert. Nie hatte ich gedacht, im Sterben noch so viele Entscheidungen treffen zu müssen. 

"Oder du begleitest mich. Du wirst sehen, wie Kinder sich freuen, ihre Eltern wiedersehen zu dürfen. Wie alte Menschen von ihren Schmerzen befreit werden. Wie Mütter ihre Töchter begrüßen. Wie Hunde ihre Herrchen voller Glückseligkeit empfangen. Wie kleine Jungen ihren Katzen um den Hals fallen. Wie Kinder ohne Geschlecht von meinen Tieren zum ersten mal Warmherzigkeit gezeigt bekommen. 

Wie hasserfüllte Menschen daran zerbrechen, wenn mein Eichhörnchen ihnen Liebe gibt. 

Wie der Schulschläger um Verzeihung bittet, wenn er in die Augen einer Katze blickt. 

Wie die Mutter, die ihr Kind einst schlug alles dafür gibt, die Nähe eines Tieres spüren zu dürfen. 

Wie ein Mörder darum bettelt, noch eine Stunde länger leben zu dürfen.

Wie ein Politiker sich wünscht, seiner Familie die Wahrheit sagen zu dürfen, bevor er gehen muss.

Wie ein Vermieter daran zerbricht, dass er all seine Besitztümer hinter sich lassen muss."


Ich schweige. Alles, was mir nach diesen Aufzählungen einfällt, erscheint mir unpassend, laut auszusprechen. 

Mit einem tiefen Atemzug fasse ich Mut: "Was kommt danach?"

Die alte Frau lacht. "Nichts kommt danach. Ich bin das Ende." 

Gespräche mit dem TodWhere stories live. Discover now