Ein Magier und seine Decke

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Fünf Tage. 

Grau hatte fünf Tage gebraucht, bis er begriff, dass sich etwas geändert hatte. Am ersten Tag schmeckte das Essen etwas anders; eine Veränderung, die scheinbar mit dem rapiden Verfall seines Körpers einherging. Leider wusste Grau sehr genau, was die Drogen mit ihm machten. In erster Linie unterdrückten sie seine Kraft, deswegen wurden sie ihm verabreicht. Doch dieser Eingriff in seinen Hormon- und Botenstoffhaushalt zog einen Rattenschwanz an Nebenwirkungen mit sich, die ihn früher oder später das Leben kosten könnten. Der Verlust des Geschmacks war eine davon, wenn auch keine, über die er sich Gedanken machte – im Gegenteil, die halb vergammelte Brotsuppe schmeckte besser als zuvor. 

Doch die Gedanken an seine gemarterte Leber brachten ihn in der Nacht um den Schlaf, und damit um die Ruhe, die er dringend brauchte, um die Droge zu bekämpfen. Er trat ein in einen Teufelskreis, eine Abwärtsspirale, die ihn allerhöchstens noch einige Wochen in den Abgrund geleiten würde. Dann wäre es vorbei, er wäre tot, eine tote Seele im Niemandsland, weit weg von jedem, der ihn finden wollte.

Doch wollte ihn überhaupt jemand finden? Möglich. Sogar sehr wahrscheinlich. Konnte ihn jemand finden? Der heulende Wind, der Tag und Nacht um den Turm strich und das Tragwerk zum Heulen brachte, schien ihm zu antworten. Nein, sagte der Wind, nein, dich wird niemand finden können. Außer, ja außer natürlich, ich trage ihn persönlich zu dir...

Der zweite Tag überraschte Grau. Über Nacht hatte ein starkes Fieber ihn ins Delirium gestürzt. In seiner Einbildung redete der Wind höhnisch auf ihn ein, bot ihm schadenfroh seine Hilfe an. Doch als der Mond hinter den Bergen am Horizont verschwand und der Morgen graute, fand er einige Stunden Schlaf. Als er aufwachte, stand die Sonne hoch am Himmel – und er fühlte sich tatsächlich ein wenig erholt. 

Gerade, als sich ein Funken Hoffnung in seine trüben Gedanken schleichen wollte, erinnerte er sich, dass das wohl kein Grund zur Freude war. Wahrscheinlich hatten die Russen seinen chemischen Cocktail mit radioaktiven Elementen angereichert, um sich der Wirkung der Droge zu vergewissern, und nun würde sein Körper neben dem multiplen Organversagen auch noch einer Strahlenvergiftung erliegen. Grau konnte förmlich fühlen, wie sein Rückenmark die Zellproduktion einstellte. Das Gift riss sein körpereigenes Abwehrsystem derart in Stücke, dass es jede Immunreaktion aufgab. Die Folge dessen war ein trügerisches Wohlgefühl, eine Schein-Gesundheit. Sein Fieber sank, sein blutiger Husten klang ab, seine starken Kopfschmerzen wichen einem seichten Druckgefühl hinter der Stirn. So verging der dritte Tag, dann der vierte. Man könnte meinen, ich genese tatsächlich. Aber das kann nicht sein.

Doch dann kam der fünfte Tag, und mit ihm die Euphorie. Grau wurde von seiner lichterloh brennenden, fliegenden Decke geweckt, die versuchte, den Holzhocker neben seinem Bett mit sich in einen feurigen Tod zu reißen. Seine Kraft war zurück. Seine Magie war zurück.

„Heilige Sch...", stöhnte er, dann sprang er aus dem Bett. „Stop! STOP!"

Normalerweise war es für einen Typen wie Grau kein Problem, ein kleines Feuer zu löschen. Nur wenige Wochen zuvor hätte ein klar formulierter Gedanke ausgereicht, gefolgt von einer simplen, geradlinigen Bewegung, und die Flammen wären ehrfürchtig zurück hinter den Vorhang der Realität geflüchtet. Ein gestotterter Befehl, begleitet von einem ungeschickt gelenkten Energiestoß, bewirkte allerdings ungefähr das Gegenteil – kaum hatte Grau die Worte gesprochen, riss eine Stichflamme die Wolldecke endgültig in Stücke, und sogar der Hocker fing an zu qualmen. 

Ohje.

Grau war nicht freiwillig hier. Er war gefangen auf einem militärischen Posten, tief im Norden eines fremden Landes. So tief im Norden, dass einem beim einatmen feuchter Luft kleine Eiskristalle in der Lunge kratzten. Die Kohorte, die ihn gefangen hielt, hatte ihn unter Drogen gesetzt – aus gutem Grund, dachte Grau mit grimmigem Stolz. Er wusste leider sehr genau, wie die Droge funktionierte, obwohl sich ihre Wirkung relativ simpel beschreiben lässt. Bist du ein Nicht-Magier: alles cool. Bist du ein Magier: alles nicht-cool.

Die ersten zwei Tage hatte Gray nicht gegessen, weil er genau wusste, dass sie seine Magie unterdrücken wollten. Aber mit einem Körper, der achttausend Kalorien verbrennt, nur um seinen Grundbedarf an Energie zu decken, bleibt man nicht lange im Hungerstreik. Keine Stunde nach seiner ersten Mahlzeit hier war seine Magie dann versiegelt. Wollte er dennoch auf sie zugreifen, litt er Todesqualen und der Zauber misslang fürchterlich. Der Versuch, seine kaputten Socken durch den Raum fliegen zu lassen, hatte in einem Brechkrampf geendet. Und in noch kaputteren Socken.

Doch der Bann war gebrochen, und nun brannte seine Wolldecke. Grau nahm all seine Kraft zusammen, konzentrierte sich und faltete die Hände vor der Brust. "INHIBE!"

Auf den lateinischen Befehl reagierte seine Magie. Die Flammen erloschen. Das, was von dem grauen Filz noch übrig war, sank traurig zu Boden. Grau erwachte aus seiner Resignation. Ihm wurde klar, wie heikel die Situation war.

Würden die Soldaten sehen, dass seine Decke gebrannt hatte, konnten sich selbst diese Trottel an einer Hand abzählen, dass er wieder zaubern konnte. Sie würden den dicksten unter ihnen in die Zelle schicken, mit einem zwei meter hohen, isolierten Turmschild bewaffnet, und er würde den Teufel aus Grau herausprügeln. Dann würden sie ihn mit einer explosionsfesten Zwangsjacke fixieren und ihm die Droge intravenös verabreichen. In einer Dosis, die ihn wochenlang außer Gefecht setzen würde. Das wäre sein Todesurteil. 

Grau ging vorsichtig zu der verstärkten Metalltür. Von der anderen Seite hörte er keine eiligen Schritte; offenbar hatte ihn niemand bemerkt. Für den Moment. Er bewegte sich langsam in Richtung Fenster und spähte durch die Gitterstäbe hindurch auf den gepflasterten Innenhof.
Irgendjemand in dieser Burg hatte die Droge aus seinem Essen gefiltert. Irgendjemand wollte, dass er wieder zaubern konnte.

Grau hatte Hilfe.

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"Die Tocher der Göttin"

- Büchling, Wattpad Version

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