Grau dachte darüber nach, die Überreste der Decke zu verstecken. Doch in seinem Zimmer war nichts außer einem kurzen Bett aus Holz, einem kleinen Schreibtisch, einer noch kleineren Toilette und einem winzigen Hocker – selbst, wenn er die Decke ins Lattenrost klemmte, konnte sie immer noch leicht gefunden werden. Außerdem war es ohne Decke bestialisch kalt, und es wäre viel zu auffällig, sich mit einem magischen Feuer zu wärmen. Andere Magier hätten die Decke mühelos reparieren können, aber Grau war keiner dieser Walldorf-Häkel-und-Strick-Zauberer. Es hätte ihn wahrscheinlich weniger Kraft gekostet, das gesamte Zimmer zu sprengen, als diese einfache Decke zu flicken. Für filigrane Schaffensmagie hatte er weder das Händchen, noch das Gefühl oder die Geduld. Außerdem war er völlig aus der Übung, über die Maßen hungrig und kraftlos. Die Reste der Droge zirkulierten immer noch in seinem Kreislauf. Dennoch blieb ihm nichts anderes übrig, als einen Versuch zu wagen - und so machte er sich an die Arbeit.
Nach fünf aufreibenden Nachtstunden ähnelte das Ergebnis seiner ‚Reparatur' eher einem missratenen Teppich als einer Decke, sie war jetzt viel kleiner, ausgeblichen und schief. Sie existierte zwar, aber konnte ihn definitiv verraten. Grau seufzte resigniert, dann verbrannte er die Decke restlos. Die Asche jagte er durch einen Teilungszauber, bis mit dem bloßen Auge nichts mehr davon zu sehen war. Dann halt keine Decke mehr. Ich werde behaupten, dass man sie mir weggenommen hat – das wird man mir vielleicht glauben.
Die folgenden Nächte waren kalt, weit kälter als die davor, aber die Wachen sagten nichts, als sie ihn in der Zelle besuchten, um ihm seine Mahlzeiten zu bringen - er rechnete jeden Moment damit, dass sie ihm auf die Schliche kamen, aber offenbar traute er ihnen zu viel zu. Nicht nur misstrauten sie ihm nicht, Grau hatte sogarr gigantisches Glück; am dritten Tag nach dem Decken-Fiasko warf ihm einer der Wachmänner eine neue Decke vor die Füße. Grau hatte gelernt, ihnen nicht in die Augen zu sehen, wenn er Prügel vermeiden wollte, aber in diesem Moment blickte er überrascht auf. Der Mann vor ihm war wie die anderen von den Zehen bis zum Kinn eingepackt in einen schweren, hoch geschlossenen Mantel mit eingenähter Leder- und Kettenpanzerung, auf seinem Kopf saß ein silberner Helm, der über die Nase abschloss. Darauf prangte das Bild eines massigen, grauen Drachens ohne Flügel. Die westsibirische Allianz. Für seinen Blick erwartete er einen Faustschlag, aber die Wache machte keine Anstalten. Der Mann hinter dem Halbvisier lächelte schmal, sein linkes Auge war grün, das rechte blitzte in einem hell blau.
Grau hätte diese Augenpartie aus fünfzig Metern erkannt, und nun blinzelten sie ihm direkt ins Gesicht. Plötzlich war klar, wer die Droge aus seinem Essen gefiltert hatte – und wer ihn aus diesem Drecksloch befreien würde. Am liebsten hätte er seine Freude in die Welt hinausgeschrien, aber sein Retter war nicht allein mit ihm in der Zelle. Hinter ihm bauten sich vier Wachleute auf, die ihm sicherlich nicht sehr wohlgesonnen waren. Grau erstickte seine Überraschung hinter einer erschrockenen Miene, sein Retter spielte mit; er holte zum Schlag aus und verpasste Grau eine schallernde Backpfeife. Dann hob er entschuldigend die Augenbraue, drehte sich um und verließ den Raum. Die Tür fiel ins Schloss. Augenblicklich fragte sich Grau, ob sein Verstand ihm einen Streich spielte, ob er sich seinen Freund nur eingebildet hatte. Er konnte garnicht hier sein – Miro war einen halben Kontinent weit entfernt, hunderte Meilen trennten ihn von Grau. Außerdem war er mitten in seiner Ausbildung und hatte einen jungen Drachen, um den er sich kümmern musste. Wahrscheinlich wusste er nicht einmal etwas von Graus Inhaftierung. Es war zwar wahrscheinlich, dass das Königreich Preußen davon wusste, aber nicht, dass ein Offizier wie Miro davon in Kenntnis gesetzt wurde.
Grau stürzte zum Fenster und spähte hindurch. Gleich würden die Wachen den Turm verlassen. Er wischte seine geistige Umnachtung mit aller Kraft beiseite.
Die Tür ging auf, fünf Wachen stiegen die Treppe in den Innenhof hinab. Sie waren in ihrer Montur nicht zu unterscheiden – bis der hinterste sich im Gehen drehte und zu Grau hinaufsah. Meergrün und kobaltblau blitzten auf im Licht der Mittagssonne.
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Die Tochter der Göttin
FantasyGrau ist ein junger Magier, der sich wieder einmal in Schwierigkeiten gebracht hat. Sein bester Freund Miro infiltriert das sibirische Gefängnis, in dem er gefangen gehalten wird, und befreit ihn mithilfe seines jungen Drachen. Auf dem Weg in die He...