Es war einmal ...

4 0 0
                                    

Die Sonne sandte ihre wärmenden Strahlen durch das Blätterwerk der Obstbäume, die den gesamten hinteren Teil des Gartens säumten. Sanfte Lichtstrahlen kämpften sich bis zum Boden durch und liebkosten die Gestalt eines Kindes, das unbeeindruckt von der Schönheit dieses Tages im Schatten der Bäume saß und eine Stoffpuppe in seinen Armen schaukelte.


Jedes Mal wenn das kleine Mädchen den Kopf bewegte, ließ das Licht der Sonne das kupferrote Haar aufleuchten. Ihre grünen Augen waren auf die Puppe gerichtet und die schmalen Lippen bewegten sich unablässig, als sie vor sich hin flüsterte. Ihre Worte waren so leise, dass nur sie sie verstehen konnte.


»Mia, das Essen ist gleich fertig!« Der Ruf, der sich durch den Garten zog, ließ das kleine Mädchen innehalten und aufblicken. »Geh doch bitte in den Keller und sag Opa schon einmal Bescheid!«»Mach ich, Oma!«, rief die vierjährige Mia und stand auf. Mit ungelenken und mühseligen Schritten kämpfte sie sich durch das hohe Gras. Jeder davon brachte sie der grau lackierten Kellertür näher. Die Puppe mit dem ausgeblichenen rosa Kleid hielt sie fest an ihre Brust gedrückt.


Als Mia nur noch wenige Schritte von der Tür entfernt war, blieb sie stehen und musterte sie mit argwöhnischem Blick. Ihr Großvater war oft dort unten, manchmal stundenlang. Wenn sie ihn fragte, was er dort trieb, setzte er immer ein geheimnisvolles Lächeln auf und flüsterte: »Experimente natürlich.« Wenn sie dann weiterfragte, was für Experimente das seien, sagte er nur: »Geheime Experimente.«


Mia verstand nicht, wieso er die Experimente nicht auch woanders machen konnte. Der Keller war dunkel und dort war es immer kalt. Sie hatte sich einmal hinuntergeschlichen, um zu sehen, was genau er dort machte, doch er hatte sie schon entdeckt, sobald sie am Fuße der Kellertreppe ankam. Ihr Großvater, der sonst niemals mit ihr schimpfte, schrie sie an, sie solle wieder nach oben gehen, denn im Keller hätte sie nichts zu suchen. Als Mia deswegen zu weinen begann, bedachte er sie mit einem sanften Blick und erklärte ihr, sie dürfe niemals alleine in den Keller gehen. Sie hatte es ihm versprechen müssen. Es war ihm sogar so wichtig gewesen, dass sie einen Fingerschwur geleistet hatten – und Mia wusste, einen Fingerschwur gab man sich nur bei etwas sehr Wichtigem.


Das alles war noch gar nicht so lange her, gerade mal drei Monate. Und dies alles war nun auch der Grund, wieso Mia zögerte. Würde ihr Großvater wohl wieder schimpfen, wenn sie nun in den Keller hinunterging? Vielleicht sollte sie besser nur die schwere Tür öffnen, um ihn zu rufen.»Du musst dich hier kurz hinsetzen«, erklärte Mia ihrer Puppe und platzierte sie umsichtig auf dem Boden. Sie lehnte sie an die Wand, damit sie nicht umkippen konnte. Als sie gewiss war, dass die Puppe sicher saß, wandte Mia sich wieder der Kellertür zu und umfasste mit beiden Händen die raue Klinke. Sie konnte den absplitternden Lack auf ihrer Haut spüren, als sie den Türgriff nach unten zog. Unter lautem Quietschen bewegten sich die Angeln und Mia schaffte es, die Tür gerade weit genug zu öffnen, um sich durch die Öffnung quetschen zu können.»Opa! Du sollst essen kommen, sagt Oma!«, rief sie die im Zwielicht liegende Kellertreppe hinunter. Sie wartete lauschend. Keine Antwort. »Opa?«, rief sie deswegen erneut, doch auch dieses Mal erhielt sie keine Antwort. Vielleicht konnte er sie nicht hören ...


Mia drehte den Kopf, bis die Puppe in ihr Blickfeld kam. »Tasha, bleib du hier, ich gehe Opa holen!«, forderte sie das kleine Stoffbündel auf und sah dann ängstlich die Kellertreppe hinunter. Und wenn ihr Großvater wieder mit ihr schimpfen würde? Aber er musste schließlich auch etwas essen. Sie atmete noch einmal tief durch und setzte dann ihren linken Fuß auf die erste Stufe.

Schattenspiele - XXL-LeseprobeWhere stories live. Discover now