Sherlock Holmes - Der Vorfall vom Upper Pool

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Sherlock Holmes

DER VORFALL VOM UPPER POOL

Viele Jahre sind seit den Ereignissen, die ich nun schildern möchte, vergangen; Jahre in denen mein Freund Sherlock Holmes mich immer, wenn ich im Begriff war, die erwähnten Geschehnisse niederzuschreiben, inständig darum gebeten hat, meine schriftstellerische Aufmerksamkeit einem unserer anderen Fälle zu widmen, und die Veröffentlichung jener ungewöhnlichen Ereignisse vorerst zurückzustellen. Es war nicht die Eindringlichkeit, mit der er seinen Wunsch äußerte, die mich in diesen Fällen von meiner beabsichtigten Arbeit abhielt, sondern die genaue Begründung, die mein Freund stets vorbrachte und der ich, seine besonderen Empfindungen respektierend, mein vollstes Verständnis entgegenbrachte.

"Es gibt einen Sachverhalt in diesem Fall, mein lieber Watson", sagte er, "den ich bis heute nicht erklären kann und der es mir - ich hoffe, Sie können meine Bedenken verstehen - unmöglich macht, Ihnen zu erlauben, den Fall der Öffentlichkeit darzulegen."

Der geneigte Leser wird meine Überraschung umso mehr verstehen, als mich Mr. Holmes eines Tages bat, den Fall dennoch zur Veröffentlichung vorzubereiten. Vielleicht waren es die vielen Erfahrungen und Erlebnisse, die er während seiner langen Abwesenheit von London gemacht hatte, in der Zeit, als wir alle ihn für tot hielten; vielleicht waren es auch die Einsichten in das Leben an sich, die er als Mensch mit zunehmendem Lebensalter ganz wie von selbst gewonnen hatte, - jedenfalls hatte er seine Meinung geändert und ich begann sogleich damit, meine Notizen zu ordnen und nach einiger Zeit hatte ich alle Fakten des nun folgenden Falles beisammen.

Es war an einem kalten, äußerst frostigen Dezemberabend, als Holmes und ich nach dem Essen in Ruhe am Kaminfeuer saßen. Plötzlich läutete die Türglocke heftig und als die Haustür geöffnet wurde, kündigte der Klang von großen und schnellen Schritten auf der Treppe einen eiligen Besucher an. Einen Augenblick später stand Inspektor Lestrade im Zimmer.

"Was führt Sie von den Docks am Upper Pool so überstürzt zu uns nach Marylebone, mein lieber Lestrade?", begrüßte Holmes den Polizisten und blickte zu ihm auf.

Lestrade schaute Holmes mit einem Ausdruck des Erstaunens an. "Ich werde Sie später fragen, wie Sie das herausgefunden haben, Mr. Holmes, doch jetzt ist leider nicht die Zeit dazu."

"Setzen Sie sich, mein Freund", sagte Holmes. Er schien die Ablehnung, die der Inspektor seinen Deduktionskünsten entgegenbrachte, diesem nicht im Geringsten übel zu nehmen - ein Zeichen dafür, dass er einen interessanten Bericht erwartete.

"Ich komme - wie Sie sehr richtig erkannt haben, Mr. Holmes - von den Docks am Upper Pool. Dort ist vor nicht ganz einer halben Stunde ein Mann von einem der hohen Ladekräne in die Themse gestürzt. Wir konnten ihn nur noch tot bergen."

"Suizid kommt leider immer wieder vor, Lestrade."

"Ich gehe nicht von Selbstmord aus, Mr. Holmes, denn eine halbe Stunde zuvor ist ein anderer Mann vom Dach der Lambert Station gestürzt. Er war sofort tot. Augenzeugen, die wir an beiden Orten vernommen haben, berichteten, dass die Männer äußerst verwirrt, ja geradezu verrückt auf sie gewirkt hätten."

Sherlock Holmes richtete sich in seinem Sessel auf und beugte sich, seine Arme auf die Oberschenkel gestützt, zu dem Inspektor herüber.

"Kann das nicht einfach ein Zufall sein?", fragte ich.

"Nicht, wenn vier solcher Fälle in zwei Stunden auftreten.", antwortete Lestrade.

"Vier Fälle?"

"Ja, nur eine Stunde zuvor ist ein Mann in St. George Church eingedrungen und hat sich vom Glockenturm heruntergestürzt. Auch für ihn kam jede Hilfe zu spät."

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