Wirklichkeit

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Es war still. Es war dunkel.


Ich lief die leeren Gassen entlang. Es war kalt und feucht. Der Geruch, nach ziemlich fortgeschrittener Verwesung stach mir in der Nase.
Schnell beschleunigte meine Schritte und folgte dem Gestank. Ich hatte schon eine Ahnung, wo ich landen würde.
Ungeschickt quetschte mich durch enge Lücken zwischen Häusern und stolperte durch dreckige Pfützen. Hier und da hörte ich die trippelnden Schritte, kleiner Pfoten, die das weite suchten.
Genau! Rennt weg! Haltet euch von mir fern! Ich bringe nur Unglück mit mir.
Ich stolperte über den mühelos gepflasterten Weg, der zwischen den heruntergekommenen Häusern entlangführte. Gerade noch rechtzeitig fing ich mich an einer der grauen Häuserwand ab. Das sie einmal weiß gewesen war konnte man heute nur noch erahnen. Die Wand war mit dunklen Flecken übersäht und der Putz, dass bisschen, das noch übriggeblieben ist, blätterte ab.
Ich spürte die unangenehme Feuchte, die meine Handfläche empfing und meine Handfläche in einem dunklen Grauton färbte.
Die Gasse war eng und die Nachbarhäuser waren in keiner besseren Verfassung als das, an dem ich mich abstützte.
Ich schaute hinauf. Die dunklen Gebäude erstreckten sich weit in den Himmel, doch wenn man weit genug nach oben sah, entdeckte man die dunkle klare Nacht. Vereinzelt sah man Sterne aufblitzen.
Oft saß ich früher in solchen Nächten mit meinem Vater draußen und betrachteten gemeinsam dieses Spektakel, welches uns der Himmel bot.
Ich musste weiter. Schnell wollte ich diese Nacht hinter mich bringen. Was einst eine schöne Nacht war, wurde heute zu einem Albtraum. Zum dritten Mal durchlebte ich dies. Eine Woche lag zwischen den vorherigen Vorfällen. Beide genauso unschön, wie dieser wurde.
Sie verfolgten mich in meinen Träumen. Schuldgefühle plagten mich und dass schlimmste war ... ich war tatsächlich die Schuldige. Wie oft brach ich unter der Last der Schuld zusammen. Oft lag ich in einem Raum, weinte, bis keine Tränen mehr kamen und ich lautlos schluchzend einschlief.
Keine klaren Gedanken konnte ich mehr fassen. Es bedrückte mich und doch gab es keinen, mit dem ich Reden konnte.
Wie sollte ich dies nur erklären? Man würde mir weder glauben noch helfen können. Wahrscheinlich würde ich in der Anstalt landen.
Ich war allein.
Doch vielleicht würde die Menschheit erfahren, was in ihrer Welt geschah. Erfahren, dass ihre Welt nicht das war, was sie glaubten. Doch dann würden sie auch erfahren, dass ich die Schuld trug. Und das würde mir mein Leben kosten ... wenn ich es nicht ohnehin verlor.
Ich kannte ihn nicht, konnte ihn nicht einschätzen.
Auch ich glaubt früher, die Welt zu kennen. Glaubte, dass unser Leben so einfach war, wie es alle dachten. Träumte nur davon, wie es wäre, wenn die Welt für mich perfekt wäre. Und nun stellte ich vor wenigen Wochen fest, wie es wirklich war.
Als wäre die Realität aus meinen Träumen entsprungen, doch wurde es zu einem Albtraum.
Ich hatte etwas auf die Welt losgelassen, dass für das Dunkle sorgte. Weit entfernt hörte ich die Leute reden.
Durch die vielen Häuser kam es nur gedämpft bei mir an. Leute lachten, lebten, waren glücklich. Keiner von ihnen konnte sich vorstellen, was ich hier tat und getan hatte. Was uns erwarten würde.
Ein paar hatte es schon herausgefunden, doch diese würden nun kaum mehr etwas erzählen können.
Es war nicht mehr weit. Das sagte mir mein Gefühl. Und meine Nase. Ich begann, mich weiter durch die Gasse zu drücken. Der Wind wehte mir heftig ins Gesicht, als wollte er mich davon abhalten weiter zu gehen. Doch ich wusste, dass ich weitermusste. Als ich um eine Ecke bog blieb ich abrupt. Spürend, wie mir etwas aus dem Magen emporstieg, drehte ich mich zur Seite.
An eine Wand gelehnt, die früher einmal Gelb gewesen sein musste, übergab ich mich.
Ich rang tief nach Luft. Ich musste mich zusammenreißen.
Kurz schloss ich die Augen und versuchte mich zu beruhigen. Mein Herz pochte und der heftige Gestank nach Tod trieb mir Tränen in die Augen. Ich wollte das nicht. Nein, aber es war nun meine Aufgabe.
Irgendwo krähte eine Krähe.
Nach kurzer Zeit fühlte ich mich bereit, zu dem, was mich erwartete. Langsam öffnete ich die Augen und betrachtete die Leiche, die vor mir lag. Ausgestreckt lag der Körper auf dem Boden. Die Glieder verdreht. Sein Brustkörper war aufgeschlitzt. Nein, aufgerissen traf es eher. Als hätte jemand mit langen Klauen diesen Menschen, wie ein ungeduldiges Kind ein Geschenk, aufgerissen. Sein Bauch sah nicht anders aus. Eine Gänsehaut überzog mich.
Eine Große Blutlache, vermischt mit dreckigem Regen, umgab die leere Hülle, die dieser Mensch hinterlassen hatte. Wegen mir.
Ich stand hier, in einer engen Gasse.
Es hatte begonnen zu regnen.
Die Haare hingen mir in Strähnen ins Gesicht und auf meiner Kleidung zeigten sich spuren des erbrochenen.
Die vorherigen Leichen sahen schlimm aus, aber nicht so schlimm, wie die, die er an diesem Tag hinterließ. Die anderen waren ein wenig...ordentlicher. Es schien, als würde er etwas suchen. Etwas, dass er nicht fand und deshalb ungeduldiger wurde. Ich wollte mir nicht vorstellen, was für schmerzen dieser Mann gehabt haben musste. Ich hoffte nur für ihn, dass er in eine tiefe Ohnmacht fiel und nichts mitbekam, als er so zugerichtet wurde.
Auch wenn ich mich dabei nicht gut fühlte, wagte ich es einen Schritt näher an ihn heranzutreten. Durch das viele Blut und den zahlreichen Wunden erkannte ich nicht viel, doch er musste männlich sein und war nicht älter als 25. Hatte er Familie gehabt? Warteten eine Frau und Kinder, dass ihr Mann und Vater heimkehrte? Sie würden nie erfahren, was geschehen war.
Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Eigentlich hatte ich mit mir ausgemacht, dies alles nicht so nah an mich heran zu lassen, doch es schien unmöglich.
Ein weiterer Windstoß fuhr mir ins Gesicht und die Kälte Stich an den Stellen, an denen die Tränen meine Wangen entlangliefen.
Ich weinte.
Näher betrachtete ich den Toten und stellte fest, dass sein Blick starr nach oben gerichtet war. Als würde etwas bestimmtes anstarren. Langsam drehte ich mich um und folgte seinem Blick. Ich erstarrte. Auf der gegenüberliegenden Häuserwand stand etwas mit Blut geschrieben. Ich musste meinen Kopf in den Nacken legen, um die verschnörkelte Schrift zu entziffern.

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