Am nächsten Tag stürmte ich fast schon zu meinem Schließfach und riss förmlich die Tür auf, um zu sehen, ob ich eine neue Botschaft erhalten hatte. Doch so sehr ich auch suchte, ich konnte keinen kleinen Zettel entdecken. Enttäuscht sackten meine Schultern zusammen - aber was hatte ich erwartet? Etwa, dass ich von nun an jeden Tag einen Liebesbrief erhalten würde?
Genervt darüber, dass meine Erwartungen immer so schnell nach oben schossen, schüttelte ich meinen Kopf. Ich müsste Geduld haben, ob sich mein geheimer Briefschreiber noch einmal meldete, vielleicht war es auch nur eine einmalige Aktion gewesen. Also griff ich nur nach meinem Geschichtsbuch und lief zu meinem nächsten Kurs, der in dem ranzigen Container mitten auf dem Schulhof stattfinden sollte.
Unsere Schule hatte dem rasanten Anstieg der Schülerzahl nicht so schnell folgen können, deshalb hatten sie uns als Notlösung mehrere von diesen hässlichen Notunterkünften auf den Schulhof geklatscht, in denen es immer Sommer viel zu warm und im Winter viel zu kalt war und zu meinem Unglück wurden meistens die Oberstufenschüler dorthin verbannt.
Lustlos schlenderte ich zu dem Raum und setzte mich auf meinen Platz neben Lena, die sich mit ihren buntgefärbten Haaren und den unzähligen Piercings und Tattoos deutlich von der langweiligen grauen Masse abhob. Wahrscheinlich war das auch einer der Gründe, warum ich sie echt gut leiden konnte - sie schwamm nicht mit dem Strom, sondern machte ihr eigenes Ding, egal was andere Leute sagten.
„Hey, Flo. Was geht?", begrüßte sie mich, während ich mich neben ihr niederließ.
„Nicht viel und bei dir?", fragte ich zurück und holte mein Buch, meinen Block und meine Stifte aus meiner Tasche heraus. „Du Lena, könnte ich vielleicht die Hausaufgabe von dir abschreiben?", fügte ich dann zaghaft hinzu und blickte sie bettelnd an.
Doch Lena lachte nur leicht auf und schob mir bereitwillig ihren Block herüber, schließlich kannte sie dieses Spiel schon. „Und? Welches Buch hat dich dieses Mal so gefesselt, dass du es einfach nicht aus der Hand legen konntest?"
Ich zögerte einen Moment, gestern hatte mich gar kein Buch oder Film so sehr abgelenkt, dass ich die Hausaufgaben vergessen hatte, sondern meine Gedanken waren so sehr mit dem Gedicht beschäftigt gewesen, dass ich alles andere völlig verdrängt hatte. Endlich passierte mal etwas Spannendes und Romantisches in meinem eigenen Leben, da konnte ich vor Aufregung und Freude kaum an etwas anderes denken, auch wenn diese Reaktion auf einen so kleinen Brief völlig übertrieben klang.
„Nicht ganz", antwortete ich ausweichend. Irgendwie wollte ich dieses Geheimnis noch mit niemandem teilen. Mein geheimer Verehrer sollte auch erstmal geheim bleiben, denn dieser Brief war etwas ganz Besonderes und Persönliches für mich.
Lena schien sich jedoch mit dieser kargen Antwort zufrieden zugeben, denn sie wandte sich ihren giftgrün lackierten Fingernägeln zu, während ich begann, ihre Stichpunkt zu der Aufgabe zu übernehmen. Gerade als ich den letzten Punkt beendet hatte, betrat unser Lehrer Herr Ritter den Raum. Ein schrulliger Typ, der so alt aussah sah, als hätte er all das, was er uns im Geschichtsunterricht erzählte, miterlebt. Wirklich, der Typ müsste seinem Aussehen nach zu Urteilen schon seit zwanzig Jahren in Rente zu sein, aber stattdessen machte er sich immer noch einen Spaß daraus, Schüler mit dem Ausweniglernen unnützer Daten zu quälen. Wenn ich nicht irgendwann bei einer Quizshow nach dem Entstehungsdatum von Rom gefragt werden würde, dann wäre der ganze Unterricht für die Katz gewesen.
Der Unterricht begann und durch Lenas Nettigkeit kam ich um einen erneuten Eintrag im Klassenbuch herum - ich musste mich zukünftig echt mehr anstrengen. In der Fünfminutenpause gingen Lena und ich dann zusammen raus, da sie eine Zigarette rauchen wollte. Ich unterdrückte dabei mit Mühe den Drang, sie ebenfalls nach einer Zigarette zu fragen, denn ich wusste, dass Kerim sehr enttäuscht darüber sein würde. Standhaftigkeit zählte seiner Meinung nach zu den wichtigsten Tugenden.
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Blumen im Beton
RomanceFlo ist eine hoffnungslose Romantikerin. Sie versinkt am liebsten den lieben langen Tag in kitschigen Romanen und Filmen, um ihrem monotonen Leben, dem es an jeglicher Romantik mangelt, zu entfliehen. Doch plötzlich beginnt sie, kleine Gedichte und...