Es war schon zwei Uhr morgens, doch ich konnte immer noch nicht einschlafen. Was sollte ich jetzt nur tun? Mein ganzes Leben lang habe ich mich auf diesen Tag vorbereitet, war nach der Schule noch geblieben um zu lernen und mich auf die Initiation vorzubereiten. Ich wusste, welchen Job ich danach haben wollte und was ich dazu erreichen musste, ich hatte mein Leben genauestens durchgeplant, bis zu diesem Moment. Und dann kam der Test. Ich war nicht wirklich nervös, denn ich ging davon aus, dass ich eine Ken wäre. Die Statistik besagt, dass 90% ihre gebürtige Fraktion zugeteilt bekämen und die, deren Resultat anders war, wussten es bereits im Inneren oder hofften sogar auf einen Wechsel. Das wurde uns gesagt und ich hatte vertrauen. Wieso auch nicht? Welchen Grund hätten sie um uns zu belügen? Die Fehlerquote des Tests ging fast gegen Null, es erkannte sogar, wenn jemand unbestimmt war. Und doch, ich wurde mit Sicherheit als Ferox eingestuft! Ich war so wütend, dass ich danach direkt nach Hause stürmte, anstatt die Abschlussrede mit allen anderen abzuwarten. Genau das hätte eine Ferox doch getan, nicht wahr? Ein bitteres Lachen entwich meiner Kehle. Das war also mein neues Leben, Gebrüll, unnötige, wenn gar lebensgefährliche Regelbrüche, um allen zu beweisen, wie mutig man doch ist. Mut... Als ob das irgendeinen Unterschied machen würde. Schlussendlich konnte man als Ferox nichts vollbringen, wenn man Glück hatte, bekam man einen Job, bei dem man nicht den ganzen Tag den Zaun bewachte. Ich wollte die menschliche Natur erforschen, sie verstehen, sie verändern. Ich wollte helfen, etwas bewirken. Doch anscheinend war ich nicht gut genug. Anscheinend war es mir vorbestimmt, eine ständige Enttäuschung darzustellen. Janine wird mein Resultat überprüfen, ich wusste, dass sie sich irgendwie den Zugang dazu verschaffen kann. Der Test konnte nicht fehlerhaft sein, ich wusste das und sie wusste das auch. Es prüft deine Persönlichkeit und teilt dich der Fraktion zu, die am besten für dich geeignet ist. Ich konnte nicht bei den Ken bleiben, denn dann widerspräche ich meinem Resultat und somit der Wissenschaft dahinter. Wie konnte ich unsere Ideale vertreten, wenn ich sie von Beginn an missachtete? Aber du bist keine Ken, du denkst und handelst wie eine Ferox. Genau das würde eine Ferox tun! Welch eine Ironie. Wieder musste ich lachen, doch diesmal wurde es von einem Schluchzen begleitet. Ich werde mein Zuhause verlassen müssen. Dad verlassen müssen... Wir er mir je verzeihen können? Vielleicht, wenn Janine ihn über mein Testergebnis aufklärt. Die Eltern der Ken sind wahrscheinlich die einzigen, die einen Wechsel verstehen und hoffentlich verzeihen können. Denn die Wissenschaft dahinter ist einwandfrei, und unsere Aufgabe ist es, der Wissenschaft zu vertrauen.
Am nächsten Morgen liess ich mir nichts anmerken, ich folgte den anderen aus meinem Jahrgang und setzte mich auf meinen zugewiesenen Platz. Als mein Name aufgerufen wurde, stand ich auf, schritt selbstbewusst voran und nahm das Messer. Ich zögerte keine Sekunde. Stille, als das Blut, mein Blut, aufzischte, als es die heisse Kohle berührte, gefolgt von tosendem Gebrüll auf meiner linken Seite. Das war also meine neue Familie. Fraktion vor Blut.
Ich schaffte es nicht, einen letzten Blick auf meinen Vater zu werfen, ich wollte die Enttäuschung in seinem Gesicht nicht sehen. Die Zeremonie war zu Ende und die Menge erhob sich. Die Ferox begannen zu rennen und ich wurde mitgerissen. Mein Geist leerte sich und ich konzentrierte mich auf die Aufgabe vor mir; ich musste mithalten, denn schlimmer als ein Fraktionswechsel war nur der Verlust der Fraktion. Jeder fürchtete sich davor, die eigene Identität zu verlieren, niemand wollte fraktionslos werden. Plötzlich fingen die vordersten der Ferox an, das Gelände hochzuklettern, hoch zu den Gleisen. Wir mussten in den Zug springen, das war die erste Prüfung. Der Zug kam immer pünktlich, jede Viertelstunde, auf die Minute genau. Noch drei Minuten. Flink begann ich, mich am Gelände hochzuziehen. Ich hatte so etwas noch nie gemacht, hatte gesunden Respekt davor, doch so schwer war es gar nicht, es machte fast schon Spass. Das bedeutete es also, mutig zu sein. Ich musste schmunzeln, denn Dad sagte immer, so etwas wie pure Mut gäbe es nicht; Leichtsinn, Dummheit vielleicht. In seinen Augen waren die Ferox nicht mutig, für ihn bedeutete wahre Mut, die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie nicht gehört werden wollte. Dem Feind zu vergeben, der Forschung zu vertrauen, dem Unbekannten zu helfen. Jeder kann auf seine Art mutig sein, dazu muss man sich nicht in Lebensgefahr begeben.
Es hätte jede andere Fraktion sein können, dachte ich zähneknirschend, wieso mussten es ausgerechnet die Ferox sein? Doch weiter konnte ich dem Gedanken nicht nachgehen, denn der Zug kam plötzlich auf uns zu. Ich blickte um mich, suchte nach den Ferox, die etwas erfahrener schienen und begab mich in ihre Richtung, betrachtete, wie sie ihre Schritte beschleunigten und imitierte sie so gut ich konnte. Der Zug ratterte an uns vorbei und die ersten sprangen auf und öffneten die Türen. Ich wartete auf die erstbeste Gelegenheit, schnappte mir einen der Griffe und stiess mich mit den Füssen ab. Doch der Zug war schneller als ich vermutet hatte und ich hätte den Griff fast losgelassen. Zum Glück packten mich zwei Hände und zogen mich ins Innere. Ich stand einer gebürtigen Ferox gegenüber, sie schien im gleichen Alter wie ich zu sein. «Das war aber knapp!», lachte sie, «aber hey, fürs erste Mal war das gar nicht schlecht, die meisten checken erst gar nicht, dass sie rennen müssen. Ich bin Anna, willkommen bei den Ferox!» Zuerst war ich ein wenig verwirrt, denn bei den Ken hätte man mich eher für meine Fehler gerügt anstatt mich für das offensichtlich alltägliche Handeln der Ferox zu loben. Aber du bist nicht mehr bei den Ken, du bist jetzt eine Ferox...Ich fegte meine Gedanken mit einem Schulterzucken beiseite und lächelte Anna an. «Freut mich, ich heisse Lindsay, aber die meisten nennen mich Lynn» «oh, Lynn ist auch um einiges cooler, komm, ich stelle dich den anderen vor, du kennst bestimmt nicht so viele von uns oder?» Nicht wirklich, dachte ich, die Ken hatten es nicht nötig, sich mit den anderen Fraktionen anzufreunden. Aber auch bei den Ken hatte ich nicht wirklich Freunde, die meisten Familien wollten, dass ihre Kinder sich mit mir anfreunden, und als ich das realisiert hatte, zog ich mich zurück und vertiefte mich in meine Bücher. Anna bugsierte mich auf eine kleine Gruppe zu und stellte mich allen vor. Sie begrüssten mich alle herzlich und rissen sofort ihre Witze darüber, wieso ich wohl gewechselt habe. Und wieder fiel mir etwas auf; trotz der Witze schienen sie keine bösen Absichten zu haben, sie wollten mich weder verletzten noch demütigen. Das war neu für mich, so neu, dass ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte und so liess ich mich von der guten Stimmung mitzureissen. Vielleicht würde mein neues Leben doch nicht so schlecht werden wie erwartet.
Plötzlich trat ein etwas älterer Ferox zu uns «wir sind fast da, blamiert uns bloss nicht vor den neuen», fügte er grinsend hinzu. Anna stiess mich an «am besten rollst du ab nach dem Sprung, das dämpft ihn und du verletzt dich nicht» «wir müssen springen?» doch eigentlich war das eine rhetorische Frage, denn ich habe den Zug noch nie halten und die Ferox immer springen sehen. Doch wir waren recht hoch, auf gleicher Ebene mit den Dächern der Gebäude rings um uns herum. Und genau dorthin sprangen die ersten aus den vorderen Waggons. Na toll, dachte ich mir, presste die Zähne zusammen, nahm Anlauf und sprang zusammen mit den anderen. Ich nahm mir die Anweisung von Anna zu Herzen und versuchte, den Sprung abzufedern. Trotzdem riss mein Hemd und ich schürfte mir das Knie auf. Aber mein Herz pochte und ich konnte nicht anders als aufzulachen. Doch mein Grinsen erstarb augenblicklich, als ich zum Zug zurückblickte und einen Candor entdeckte. Er war nicht gesprungen und jetzt... Jetzt war er war fraktionslos. «Sowas gibt's immer wieder, sie schaffen es nicht auf den Zug oder getrauen sich nicht zu springen» meinte Jace, einer von Annas Feroxfreunden. Ich schüttelte traurig den Kopf und folge den anderen zum Rand des Gebäudes. Einer der Ferox, die bereits dort standen, erhob die Stimme und alle wurden still. «Für alle Fraktionswechsler, mein Name ist Castiel, ich bin einer eurer Ausbilder. Willkommen bei den Ferox» Auf seine Worte folgten Gebrüll und Applaus, er wartete mit einem Schmunzeln bis sich alle wieder beruhigt hatten und sprach dann weiter. «Um in die Basis zu kommen müsst ihr hier hinunter» er zeigte dabei beiläufig auf den Abgrund hinter sich. «Damit meint er, dass wir herunterspringen müssen, nur um das klarzustellen», grinste mich Jace an. Verdutzt sah ich ihn an. «Ist da Wasser oder so?» «Wer weiss» sein Grinsen wurde grösser. Castiel erhob wieder die Stimme: «Na, wer traut sich als erstes?» Das ist doch bescheuert! Wenn da unten Wasser ist und jemand nicht damit rechnet, kann dieser sich ernsthaft verletzen! Wir waren mindestens auf fünfzehn oder zwanzig Metern Höhe. Doch wenn dort unten ein Netz oder so ist und man mit den Füssen voran springt, verstaucht man sich definitiv den Fuss, wenn nicht sogar schlimmeres. Das war so typisch Ferox, so undurchdacht! «Ich springe». Alle drehten sich zu mir um. Was, habe ich das etwa gesagt? Jetzt konnte ich keinen Rückzieher mehr machen. Jace gab mir lachend einen Schubs und ich stolperte nach vorne. Vielen Dank aber auch, dachte ich mir und blickte genervt nach unten. Da war ein grosses Loch im Boden, was soviel hiess, dass wir höher waren als gedacht. Da unten konnte unmöglich Wasser sein. Ich hatte gelesen, dass die Initiation der Ferox schwer war, sie konnten es sich nicht leisten, schon am Anfang Verletzte zu haben. Da musste ein Netz oder ähnliches sein. «Heute noch», blaffte Castiel mich an. Ich rollte mit den Augen, doch ich riss mich zusammen und kletterte ungeschickt auf den Vorsprung. Das war dumm, so dumm. Ich hätte warten können bis jemand vor mir springt, die gebürtigen Ferox wussten sicher, was unten auf uns wartete. Hör auf zu analysieren! Ich schloss meine Augen, atmete aus und sprang.
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Divergent
FanficEine Divergent-Sweet Amoris- Fanfiction Lynn ist eine gebürtige Ken und hätte nie damit gerechnet, dass der Test bei ihr Ferox ergibt. Was wird sie jetzt tun?