Der Himmel zeigte dichte Wolkenfelder, die sich endlos bis zum Horizont erstreckten. Aus ihnen fiel ein gleichmäßiger Regen, der sich ruhig auf die Felder verteilte. Durch diesen Regen schoss auf einem Damm ein Zug von Stadt zu Stadt. Er war, der Innovation verschuldet, ohne Lokführer unterwegs und hatte meist nur einen Fahrgast.. Dieser stieg früh morgens irgendwo ein und spät abends an derselben Stelle wieder aus. Der Zug dagegen fuhr den ganzen Tag dieselbe kreisförmige Strecke neun-, zehnmal. Währenddessen stiegen hier ein paar Leute ein, dort ein paar Leute aus, aber dieser Fahrgast war immer in dem Zug und meist allein, denn der Zug war nicht so sehr beliebt. Längst hatte man schnellere Verkehrsmittel entwickelt, längst waren diese umweltfreundlicher, längst war niemand mehr bereit, für diesen Zug einen Lokführer zu bezahlen. Aber weil eben doch noch ein paar Leute mit diesem Zug fuhren und weil er Stationen anfuhr, die sonst nicht angefahren wurden, hatte man es nicht übers Herz gebracht, diesen Zug still zu legen. Auch war für diesen Zug das Ticket besonders billig. Deshalb fuhr dieser eine Fahrgast täglich mit dem Zug. Es kostete ihn praktisch nichts, er sah etwas von der Welt und fand hin und wieder einen Gesprächspartner. Wenn er gerade keinen hatte, sah er zum Fenster heraus. Dort erblickte er Wiesen, auf denen Tiere weideten, Wälder, in denen die Bäume wuchsen und im Herbst bunte Blätter bekamen, sowie Felder, auf denen allerlei Getreide und Gemüse reiften. Dazwischen sah er immer wieder die Städte, die mit Menschen vollgestopft und verschmutzt waren. Dort sah er keinen, der seine Arbeit genoss, geschweige denn ein Zeichen von Glück in seinem Gesicht trug. Dennoch sah er sie gerne und freute sich dann über sein eigenes Glück. Denn wenn es dunkel wurde und die Sonne hinter den Gleisen verschwand, stieg er an der Station aus, an der er am Morgen eingestiegen war und die er an diesem Tag schon zehnmal passiert hatte, ging die Stufen zur Straße hinunter und lief langsam zu einem einzeln stehenden Haus, wo er von seiner Frau und einem Kind begrüßt wurde.
„Und, wie war es heute?", fragte sie dann, nachdem der Mann das Kind liebevoll auf den Arm genommen hatte. „So wie immer, ein paar Fahrgäste, aber das wird in letzter Zeit auch immer weniger", antwortete er ihr wahrheitsgemäß. Dass er mit dem Zug fuhr, aber lange nicht mehr der Lokführer war, hatte er ihr lieber verschwiegen. Sein Geld verdiente er längst mit dem Verkauf von Geschichten, die er über die Leute im Zug schrieb. Heute war ihm wieder eine interessante Geschichte zu Ohren gekommen, die er gleich niederschreiben wollte, wenn Frau und Kind schliefen, wobei er ein wenig seine Fantasie spielen ließ.
Aber auch wenn seine Fantasie grenzenlos war, wollte er nicht auf die Zugfahrten verzichten. Denn er konnte sich zwar einige Geschichten ausdenken, aber die schönsten Geschichten schreibt immer noch das Leben.
YJ -15-03-2019