1. Der Spiegel

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Ich berührte die Oberfläche des Spiegels, der auf meinem antiken Schreibtisch stand und irgendwie fehl am Platz wirkte. Die dunkelblauen Augen meines Abbildes wurden von den braunen Flecken, eine Folge der Zeit, teils verdeckt.
Ich ließ die Hand sinken und seufzte. Ich fühlte mich mit dem Spiegel verbunden, so unpassend und mit vielen Fehlern. Fehl am Platz halt.

Hi, mein Name ist Alicia, 17 Jahre alt, gehe in die 11. Klasse einer Oberstufe in Hamburg, wo ich auch mit meiner Großmutter lebe.
Meine Eltern starben bei einem Autounfall und so habe ich nur noch meine Oma.
Sie ist eigentlich eine ganz Süße, aber hat sie nicht mehr alle. Sie war schon immer etwas speziell, las mir immer wieder aus der Hand und redete von Feen im Garten und so, aber nach ihrem Schlaganfall ist sie komplett gaga geworden. Oma ist total vernarrt in die Geschichten von Alice und ihrem verrückten Wunderland, dass sie nur noch in Zitaten redet und ich sie immer wieder an einer verrückten Tea-Time-Party hindern muss, fragt mich bitte nicht. Mittlerweile kenne ich alle Geschichten in und auswendig.
Aber das wäre noch alles zu ertragen, wenn sie nicht darauf bestehen müsste, mir alle meine Kleidung selbst zu machen. Versteht mich nicht falsch, es ist ja süß, dass mir meine Omi Kleidchen und Röckchen näht, allerdings bin ich doch schon in einem halben Jahr volljährig. Da wird es irgenwann unangenehm. Zudem hat sie einen üblen Modegeschmack und ihr Nähtalent hat sie wohl mit dem Rest ihres Hirns in den Hasenbau geschmissen.

Ich musste grinsen. Schon wieder eine Anlehnung an das Wunderland. Ich sah mein Spiegelbild grinsen, was mich nicht unbedingt hübscher machte, im Gegenteil. Ich ließ meine Mundwinkel wieder sinken.
Ich hasste mein Aussehen.
Ich hasste meine Augen, meine dunkelbraunen Haare, mein Gesicht, ich hasste einfach alles an meinem Erscheinungsbild. Und dann dieses bescheuerte Grinsen.
Ich berührte wieder die reflektierende Glasfläche und versuchte mit meiner Hand mein Gesicht zu verdecken, was mir leider mehr schlecht als recht gelang.

Wie ich so die Kälte an meiner Hand spürte, dachte ich komischerweise an Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln.
Ich zog mich wieder von meinem Spiegelbild zurück und seufzte wie so oft. Ich beobachtete, wie durch die Wärme meiner Handfläche die kalte Oberfläche des Spiegels beschlug.
Während der Spiegel wieder klar wurde, dachte ich darüber nach, wie gerne ich so wäre wie diese Wärme an der Scheibe. Ich wollte verschwinden. In das Wunderland, wie Alice in einen Hasenbau fallen und nie wieder auftauchen.

"Es ist möglich, wenn du daran glaubst"

Ich erschrak. Wer war das? Woher kam das? Plötzlich hörte ich es unten Scheppern. Na klasse, Oma macht wieder eine Tee-Party.

Ich schob jeglichen Gedanken an diese seltsame Stimme beiseite und rannte schnell nach unten, ehe Oma mit dem Tassen-Werfen beginnen konnte.

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