Der nächste Tag kam schneller als sie gedacht hatte und kurz nach Sonnenaufgang, machte sich Felice dran, aufzustehen. Mit langsamen Schritten ging sie hinaus ins Badezimmer. Durch das Fenster kam Vogelgezwitscher zu ihr herein. Ihren leicht müffelnden Pyjama zog sie aus und warf ihn in den kleinen Wäschekorb, der neben der Toilette stand. Zum ersten Mal seit langem stellte sie sich unter die Dusche und drehte das lauwarme Wasser auf. Der Strahl prickelte auf ihrer Haut und fühlte sich gut an. Vom vielen Liegen waren ihre Muskeln ganz angespannt und lockerten sich jetzt ein wenig.
Nach der erfrischenden Dusche schlang sich das schlanke Mädchen in ein weiches, wohlduftendes Badetuch und ging zum Spiegel hinüber. Mit der Handfläche säuberte sie die Spiegeloberfläche vom Dunst des heißen Wasserdampfes, sodass sie sich darin betrachten konnte. Es war lange her, seit sie ihr Spiegelbild zuletzt gesehen hatte. Im ersten Moment erschrak sie, als sie ihre Reflexion in der spiegelnden Oberfläche sah. Ihre einst sonnengebräunte Haut war mittlerweile blass und fahl geworden. Und ihre Augen, die sonst immer ein Funkeln ausstrahlten, wirkten nun wie tot. Schnell wandte sie den Blick wieder ab, da sie ihn nicht ertragen konnte, und putzte sich die Zähne. Als sie soweit fertig war, ging sie zurück in ihr Zimmer, um sich anzuziehen und zwar keinen Pyjama, sondern ein rotes Shirt und ein Paar Jeans. Ihr verändertes Spiegelbild blickte sie aus dem großen Standspiegel an und übte ein gezwungenes Lächeln ein. Sie wollte sich so natürlich wie möglich geben, damit ihre Eltern keinen Verdacht schöpften. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, seit sie das letzte Mal gelächelt hatte. Die Bewegungen die ihre Mundwinkel vollführten wirkten irgendwie befremdlich und unvertraut auf sie. Dennoch übte sie ein paar weitere Male, damit es so ungezwungenen wie möglich aussah.
„Ja, so kann ich mich sehen lassen", beschloss Felice. „Ich bin bereit. Zumindest soweit man es in so einer Situation sein kann."
Wenn sie Felice nun sahen, würden sie nur ihr fröhliches Äußeres sehen.
Von unten ertönte das Klingeln der Haustüre und teilte den Hausbewohnern mit, dass Laura vor der Türe stand.
„Also, Action!"
Damit ging Felice nach langer Zeit wieder hinunter ins Erdgeschoss und drehte sich am Treppenabsatz nach links zur Haustüre. Als sie diese öffnete, stand Laura mit einem breiten Grinsen vor der Türe und blickte ihre beste Freundin fröhlich an. Sie trug ein kurzes, weißes Kleid mit einer langen Kette aus grünen, kleinen Kugeln um den Hals. Ihre blonden, langen Haare waren zu einem straffen Pferdeschwanz zusammengebunden.
„Hey, Süße", Laura umarmte ihre Freundin, wie sie es immer getan hatte, und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Felice trat zur Seite und lies Laura ein. Ihre Freundin ging an ihr vorbei und direkt durch den Eingangsbereich ins Wohnzimmer.
„Ich habe neulich Nadja getroffen", erzählte Laura gleich darauf los und setze sich auf das Sofa. „Sie hat mich nach dir gefragt. Ich wusste nicht genau, was ich sagen sollte. Wie geht's dir denn so?"
Sie sah Felice an, die sich in den Sessel gegenübersetzte.
„Ganz gut so weit", Felice zucke mit den Schultern und präsentierte ihr geübtes Lächeln.
„Schön zu hören."
Hatte sie ihre Freundin überzeugt?
Die beiden wurden unterbrochen, als Felices Mutter aus der Küche mit einem Tablett kam. Darauf stand eine Karaffe mit Eistee und zwei leere Gläser. Sarah hatte es kaum glauben können, als ihr ihre Tochter gestern gesagt hatte, dass sie sich morgen mit Laura treffen würde. Daher wollte Sarah dafür sorgen, dass es ein schönes Treffen für die beiden wurde.
„Hier, bitte schön, Mädchen. Eine kleine Erfrischung für euch", sie stellte die Gläser vor ihnen ab und lies die Karaffe auf dem Tisch stehen, bevor sie wieder in der Küche verschwand. Nicht ohne sich vorher noch einmal zu überzeugen, dass Felice wirklich hier unten im Sessel saß.
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Felice
Teen FictionManchmal ist der verrückteste Ort der Welt der Ort, an dem man die Menschen trifft, die man gerade am nötigsten braucht, um sich selbst zu erkennen. So geht es zumindest der jungen Felice, die ganz im Gegensatz zu ihrem Namen, nicht gerade viel Glüc...