Prolog

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Hätte jemand sie dabei beobachtet, wie sie über dem zerschlissenen Lederkoffer kauerte, hätte er sie vermutlich für verrückt gehalten. Tränen liefen ihr über die Wangen, die sie gedankenverloren wegwischte, damit sie nicht auf den Inhalt tropften. Es war alles was sie noch von ihr besaß. In ihren Händen, die fast genauso runzelig wie das dunkle Leder des Koffers waren, hielt sie eine vergilbte Postkarte. Ihre Augen bewunderte die verblichene Handschrift, die sie kannte wie ihre eigene. Den Inhalt des Textes musste sie nicht erfassen, sie kannte ihn auswendig. Sie kannte sie alle auswendig. Vorsichtig legte sie die Postkarte zurück in den Koffer und ihn, als ihren wertvollsten Besitz, unter ihr Bett, um ihn zu verstecken. Das Zuschnappen der Kofferschnallen schien in ihrem Zimmer nachzuklingen, während sie sich in Bett legte und sich die Texte ins Gedächtnis rief. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sich ihre Augen schlossen.


Herr Meyer schauderte, als er sich in der kleinen Wohnung umsah, in der es von Menschen wimmelte. Schlimm genug, dass er seine alte Mieterin nach ihrem Tod hier hatte auffinden müssen, jetzt lag es auch noch an ihm ihren Nachlass loszuwerden. Eine Familie schien es nicht zu geben, und mit den zusammengewürfelten Möbeln und schrulligen Gegenständen konnte er auch nichts anfangen. Also hatte er sich für eine Wohnungsauflösung in Form eines Flohmarkts entschieden. So würde er wenigstens etwas für seine Mühen entlohnt werden. Er stand gerade im Schlafzimmer, in dem bisher nur die Matratze fehlte, die er hatte entsorgen müssen. Eine junge Frau hatte beschlossen unter dem Bett auf die Suche nach verborgenen Schätzen zu gehen und er beobachtete sie dabei, wie sie ihren zierlichen Körper halb unter das Gestell schob, als sie ein triumphierendes Geräusch von sich gab. Neugierig lehnte sich Herr Meyer etwas hervor, verlor jedoch einige Sekunden später das Interesse, als sie bloß einen alten Koffer hervorzog. 

Die Frau strahlte ihn an: „Damit haben Sie wohl nicht gerechnet." Ein Schulterzucken seinerseits. Sie öffnete den Koffer und betrachtete seinen Inhalt. „Wieviel wollen sie dafür?", fragte sie stirnrunzelnd. „Zehn Euro.", erwiderte er. Die junge Frau lächelte noch breiter und drückte ihm einen Schein in die Hand. Herr Meyer schnaubte abfällig und murmelte im Wegdrehen zu sich selbst: „Die Leute geben wirklich für jeden Scheiß Geld aus."


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⏰ Letzte Aktualisierung: Jan 02, 2020 ⏰

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