Fußspuren in Tschernobyl

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Am fünften Februar 19XX erhielt ich von einem alten Bekannten das Angebot, nach langer Zeit mal wieder auf eine Forschungsreise zu gehen. Seit ich Professor für Verhaltensbiologie der Universität von St. Petersburg war, hatte ich diese Stadt nicht mehr verlassen und die Feldforschung fehlte mir sehr. Der Trubel der Metropole sagte mir nicht zu und allein der Gedanke, endlich wieder die Ruhe der Natur genießen zu dürfen, besiegelte meine Zusage bereits. Meine Euphorie wurde jedoch Sekunden später stark gebremst, als ich erfuhr, was das Ziel war.

„Du sollst die Wälder rund um Tschernobyl untersuchen. Wir müssen wissen, wie die heimische Fauna auf die Tragödie dort reagiert hat. Überleg' doch mal, welche Bedeutung eine Expedition dorthin für die Wissenschaft und die Universität haben könnte! Wegen der Strahlung musst du dir auch keine Gedanken mehr machen, du sollst dort nur für ein paar Tage forschen und falls etwas sein sollte, wird dich sofort jemand abholen. Komm schon, Sergey, ich weiß, dass dich das reizt und du der beste Mann dafür bist!", erklärte mein Freund in seinem kahl eingerichteten Büro.

„Du kennst mich nun einmal, alter Knabe. Mach' dir aber keine allzu großen Hoffnungen, du glaubst doch wohl nicht die Geschichten, die die Leute dort erzählen? Wer würde mich denn überhaupt begleiten?", lautete meine erste Frage. Wegen der Strahlung machte ich mir wegen meines schon nicht mehr ganz taufrischen Alters von dreiundsechzig keine Gedanken mehr.

„Ein Assistenzprofessor, den ich persönlich ausgewählt habe, und ein Jäger, der früher mal in dem Gebiet gewohnt hat. Du bekommst die volle Ausrüstung mit Wildkameras und allem was dazugehört", versprach mein Gegenüber grinsend, einen Augenblick später wurde sein Gesichtsausdruck aber sehr ernst, er beugte sich zu mir nach vorne und flüsterte: „Lass' dich nicht von irgendwelchen verstrahlten Mutanten fressen, ist das klar?"

Wir brachen beide in schallendes Gelächter aus, rückblickend gesehen hätte ich die Warnung allerdings ernstnehmen sollen.

Zwei Wochen später brachte ein Truppentransporter, der noch aus dem Zweiten Weltkrieg zu stammen schien, Assistenzprofessor Igor Svolek, einen jungen Mann, der mit seinen kurzen, strohblonden Haaren und dem trotz seiner hageren Statur dicken Gesicht wie ein Kleinkind aussah, Wladimir Petrov, unser Führer, dessen ergrautes langes Haar und der volle Schnauzbart ihn wie eine alte Version von Friedrich Nietzsche aussehen ließen und schließlich mich zu unserem Ziel. Die holprige Straße endete mitten auf einer kleinen Lichtung und als wir unser Gepäck und die Ausrüstung ausgepackt hatten, fuhr unser Fahrer wortlos davon und überließ uns unserem Schicksal. Der Wald um uns herum war von Schnee bedeckt und machte den Eindruck, als ob wir die ersten Menschen wären, die ihn je betreten hatten. Meterhohe Tannen und dichte Sträucher prägten die Landschaft und ich fühlte mich in eine Zeit zurückversetzt, als der Homo sapiens Afrika gerade erst verlassen und in Europa eine völlig neue Welt für sich entdeckt hatte.

„Wir müssen tiefer in den Wald, hier werden wir höchstens ein paar Rehe finden", grunzte Petrov und stapfte ohne auf eine Antwort zu warten davon.

„Waren Sie seit dem Unfall schon einmal hier?", fragte ihn Svolek, als wir aufgeholt hatten.

„Ja, aber nur einmal", lautete die gewohnt kurze Antwort. Ich war nicht sicher ob die unfreundliche Art des Jägers in seinem Wesen lag oder ob er schlicht nicht hier sein wollte.

„Und haben Sie irgendwelche Mutationen gesehen?", lautete die nächste Frage, die dem verwegenen Mann gar nicht gefiel.

„Was soll ich auf eine so blöde Frage denn antworten? Ich dachte immer, du bist der Biologe, Bursche! Manche Tiere kommen hier deformiert zur Welt, aber die sind meistens schon bei der Geburt tot und dann werden sie von den Wölfen geholt. Wenn ihr zwei Eierköpfe hier seid, um riesige Mutatenhirsche oder was weiß ich was zu suchen, dann können wir gleich wieder umdrehen!", Petrov war zurecht aufgebracht und auch ich musste meinen Schützling zurechtweisen: „Wir sind Wissenschaftler und keine Monsterjäger. Unsere Forschung ist bedeutsam und wir könnten damit großes internationales Ansehen erlangen. Also reißen Sie sich zusammen!"

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