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Und am Ende hätte ich das Ganze doch einfach nur vergessen, verdrängen sollen. So, wie ich verdrängt und wahrscheinlich schon längst vergessen worden bin.

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Fast hätte Jessie die Bahn zum Gesundheitszentrum verpasst, weil sie die falsche Richtung eingeschlagen hatte.

Diese ganze Sache schien sie eindeutig mehr zu verunsichern, als sie geglaubt hatte; während des ganzen Weges drehten sich ihre Gedanken im Kreis. Vergeblich versuchte sie, sich abzulenken, setzte sich hin, lehnte den Kopf an die Scheibe und steckte ihre kabellosen Kopfhörer in die Ohren. Während sie die vorbeiziehende Landschaft betrachtete, fühlte sie sich wie eine Schauspielerin in einer Filmszene. Doch leider war der bevorstehende Arzttermin nicht fiktiv, im Gegenteil. Es gab kein Drehbuch, welches ihr verriet, wie das Ganze ausging, geschweige denn die Möglichkeit, etwas daran zu ändern. Das Drehbuch des Lebens ließ sich meistens nur schwer oder gar nicht verändern, es ließ sich lediglich durch die eigenen Entscheidungen geringfügig beeinflussen. Irgendwo waren die wirklich wichtigen Ereignisse jedoch niedergeschrieben und alle Beteiligten mussten danach spielen – zumindest glaubte Jessie das. In diesem sehr technischen Zeitalter, wo alles wissenschaftlich begründet war und man immer nach einer Erklärung suchte, war sie allerdings eine der Einzigen, die noch an Dinge wie Schicksal oder Gottes Fügung glaubten.

Ben hatte ihr einen Termin um halb zwölf gegeben und begann sofort damit, sie zu scannen und ihren Herzschlag abzuhören. Mit großer Unruhe beobachtete Jessie die zunehmende Unsicherheit und Sorge in seinem Gesicht. Was für ein Bild ergaben die Werte aus den Untersuchungen? Jessie kannte ihren Sandkastenfreund sehr gut und sah es auf Anhieb, wenn er verzweifelt versuchte, ihr etwas zu verheimlichen.

Er müsse etwas mit einem Kollegen besprechen, sagte er auf einmal, danach verschwand er für mindestens dreißig Minuten. Jessies Angst wuchs und nahm beunruhigende Ausmaße an. Was war nur los? Mit welcher Diagnose würde sie dieses Gebäude verlassen müssen? Zum ersten Mal konnte sie die Patienten, welche fast die Wände hochgingen, während sie auf ihren Befund warteten, verstehen. Es war unerträglich.

Endlich vernahm sie das leise Wischen der Schiebetüren, die sich öffneten und sie einen weiteren Blick auf Bens Gesicht werfen ließen. Er schien in diesen paar Minuten um Jahre gealtert zu sein. Wo war sein sonst so heiteres Lachen, welches normalerweise alles und jeden aufmunterte, egal, wie aussichtslos die Situation auch schien? Jessies Herz zog sich zusammen und Schwindel überkam sie, jedoch nicht wie in den letzten Wochen. Dieser Schwindel fühlte sich anders an, er spiegelte ihre Gefühlswelt wider, welche sich gerade komplett auf den Kopf gestellt hatte.

„Ben? Was ist los mit mir?" Ihre Stimme zitterte.

Er antwortete nicht, wich ihrem Blick aus und setzte sich ihr gegenüber auf den Hocker. Fast glaubte Jessie, ihre eigene Verzweiflung in seinem Gesicht zu sehen.

„Ben?", fragte sie erneut, eindringlicher.

Endlich erhob er seine Stimme: „Jess ... ich ... wir ... Ich weiß es nicht."

„Was soll das heißen?", entfuhr es Jessie ein wenig zu laut.

Die Stille war unerträglich.

„Ben! Jetzt antworte mir gefälligst! Du bist ein ausgezeichneter Arzt! Du wirst doch wissen, was mir fehlt!"

Ben sprang auf. Plötzlich brach alles aus ihm hinaus. „Nein, eben nicht! Meine Güte, Jess! Deine Beschwerden lassen sich nicht kategorisieren. Ich habe es mit der ganzen Abteilung besprochen, die Symptome sind einfach nicht kongruent ... Sie lassen nur eine Option offen ... Aber nein, das will und kann ich nicht glauben!" Sein Redeschwall brach ab.

„Welche Option, welche? Dann gibt es anscheinend doch eine Diagnose!"

Er schwieg abermals, und da fiel es Jessie wie Schuppen von den Augen. Diese mysteriöse Krankheit... Der Virus, über den man praktisch nichts wusste... an dem ein Großteil der Leute starb und dessen Behandlung einer Lotterie glich.

„Ist es diese Krankheit, Ben?" Sie betonte ,diese' ganz deutlich, es war klar, welche Krankheit sie meinte.

Ihr Freund antwortete nicht, aber seine Reaktion war Antwort genug, er schaute ihr nicht in die Augen und verkrampfte sich immer mehr. Jessie hasste es, zu weinen, und doch war sie jetzt so nah dran. An das letzte Mal konnte sie sich nicht mehr erinnern, es musste in ihrer Kindheit gewesen sein. Doch nun floss das Wasser sanft über ihre Wangen und sie sank in sich zusammen ... Ben schaute auf, erhob sich von seinem Stuhl und schloss sie in seine Arme.

„Oh Mann, Jess. Ich kenne dich schon so lange, du und deine Schwester bedeuten mir so viel. Wir stehen das zusammen durch. Vielleicht ist es ja wirklich nur eine Verstimmung und ich reagiere über. Schließlich wissen wir nichts über diese Krankheit, nur, dass ihre Symptome extrem verwirrend und nicht zusammenhängend sind. Wir suchen einfach weiter, womöglich habe ich ja etwas übersehen, etwas, was deinem Krankheitsbild Klarheit verschafft. Manchmal kann ein winziges Detail alles ändern und Diagnosen komplett auf den Kopf stellen ... Aber selbst wenn es diese Krankheit wäre, wir sind eines der ersten Krankenhäuser der Welt, die intensiv daran forschen. Kaum ein anderes Medizinzentrum ist so weit wie wir. Aber nein. Es ist ohnehin etwas anderes, zu hundert Prozent."

„Mach mir keine unnötigen Hoffnungen, Ben, bitte."

Sie merkte, wie ihr bester Freund etwas erwidern wollte, aber schlussendlich tat er es doch nicht. Doch es war besser so, schließlich gab es keine Worte, die diese Situation irgendwie hätten retten können.

Lange saßen sie so da und Jessie war unglaublich froh, dass er bei ihr war und nicht ihre Schwester. Sie wollte Annah schützen und beschloss im selben Moment, es ihr nicht zu sagen, sondern selbst nach Spezialisten zu suchen, Spezialisten, welche eine Diagnose stellen konnten, eine andere Diagnose. Den Mut aufzugeben, kam nicht in Frage, auf keinen Fall! Das lag nicht in ihrer Natur, auch wenn sie wusste, dass das, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte, wahrscheinlich ziemlich aussichtslos war.

Als hätte Ben ihre Gedanken gelesen, brach er die Stille im Raum und äußerte zögernd die Frage, mit der Jessie die ganze Zeit gerechnet hatte: „Wirst du Annah davon erzählen? Ich finde, du bist es ihr schuldig. Außerdem ist es im Moment ja lediglich eine Vermutung."

„Auf keinen Fall! Annah würde durchdrehen!"

„Aber das ist nicht der richtige Weg, Jess! Sie liebt dich und hat es verdient zu wissen, was los ist!"

„Nein, Bennet, ich werde es nicht tun. Egal, mit welchen Argumenten du mich umzustimmen versuchst."

Ihr Freund widersprach nicht. Jessie war sich der Wirkung ihrer Worte sehr wohl bewusst. Sie sprach ihn nur dann mit seinem vollen Namen an, wenn sie es zu hundert Prozent ernst meinte und Widerspruch zwecklos war.

„So, ich muss zur Uni", sagte sie rasch, erhob sich und bewegte sich Richtung Tür.

„Das ist alles, was du dazu zu sagen hast? Jess, du kannst jetzt nicht einfach weitermachen, als wäre nichts gewesen, und alle Fakten ignorieren." Bens Blick war eine Mischung aus Sorge, Unverständnis und auch ein wenig Wut.

„Du hast ja selbst gesagt, dass es keine Fakten sind! Ich werde weitere Mediziner konsultieren und auf eine andere Diagnose hoffen. Das hat nichts mit dir als Arzt oder Mensch zu tun, Ben, aber ich will das alles nicht einfach so hinnehmen. Außerdem studiere ich selbst Medizin und werde dich kontaktieren, wenn sich mein Zustand plötzlich drastisch verschlechtern würde. Eine Behandlung benötige ich ja eh nicht, schließlich existiert sowieso kein Medikament oder Ähnliches, welches gegen den Caeruleus Virus etwas ausrichten könnte. Aber danke, dass du dir mich angesehen hast." Mit diesen Worten drehte sie sich um, verließ den Raum und ließ ihren Freund ratlos zurück, das war ihr klar. Aber irgendwie nahm sie im Moment nichts mehr wahr, sie bewegte sich wie in Trance. Sie drängte sich energisch das enge Treppenhaus des Medizinzentrums hinunter, obwohl es hoffnungslos überfüllt war. Immer wieder vernahm sie wütende Beleidigungen, weil sie alles und jeden, was sich ihr in den Weg stellte, zur Seite stieß. Normalerweise hätte sie die genervten Leute nicht einfach ignoriert, aber sie wollte einfach nur raus. Frische Luft einatmen, dem quälend sterilem Krankenhausgeruch entkommen und alles vergessen, was sich zuvor in diesem Gebäude zugetragen hatte.


Caeruleus - Der Preis der Einsamkeit [LESEPROBE]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt