Der Himmel und die Straße wurden langsam zu einer einzigen verschwommenen Masse, so lange schaute ich nun schon aus dem Autofenster. Meine Finger Tippten zum Takt von dem Lied, das ich gerade hörte, wovon ich aber noch nicht mal den Namen kannte. Die Scheibenwischer waren unnötigerweise immer noch aktiviert, denn es regnete seit mindestens vier Dörfern nicht mehr. Meine Schwester hätte jetzt so etwas ähnliches wie: "Tu nicht so als wärst du in nem Musikvideo, Mirela" gesagt und mich ausgelacht. Innerlich verfluchte ich mich für diesen Gedanken. Schließlich saß ich nur in diesem Auto, damit ich eben nicht an meine Schwester dachte. Wie ein Umzug dazu dienen sollte, jemanden zu vergessen, der gestorben war, konnte mir keiner erklären. Ein Neustart sollte es für mich sein. Für meine Mum. In ihrem Heimatort konnte sie endlich die Bäckerei aufmache, von der sie immer geträumt hatte. Naja und ich könnte Freunde finden. Meinen Ruf erneuern. Ich würde alles daran setzen nicht mehr "die mit der toten Schwester" zu sein. Ich konnte meine früheren Mitschüler, die flüsternd an den Spinten standen, förmlich vor mir sehen. Ich schreckte aus meinem Gedankengang, als meine Mutter mit viel zu aufgesetzter Freude "Wir sind da" schrie und ich eine ein wenig heruntergekommene Ortstafel mit der Aufschrift "Goldcastle" erkennen konnte. Diesmal sah ich gespannt aus dem Fenster. Riesige Bäume, darunter vor allem Tannen, wucherten zwischen den großen Familienhäusern. Die meisten davon waren in bunten Farben gestrichen, andere waren einfache Ziegelbauten. Wir überquerten einen Fluss über eine im Barockstil gebauten Brücke, bis wir die Innenstadt erreichten. Überall standen mit Gold verzierte Statuen und Brunnen. Ich staunte nicht schlecht, denn das war alles andere, als das, was ich bisher gewohnt war. Auch als unser Wagen stehen geblieben war und ich die Autotür zuschmiss, konnte man am bloßen einatmen der Luft sagen, dass wir nicht mehr in Ventura waren. Statt Meersalz und Sonne, roch es jetzt nach Regen und Harz. Ich konnte mich noch nicht ganz entscheiden, ob ich das gut fand. "Hilfst du mir mal mit dem Gepäck?", fragte meine Mum abwartend. Ach ja, ich würde ja von nun an hier wohnen. Etwas benommen holte ich meinen Koffer aus dem Kofferraum und folgte meiner Mutter in ein himmelblaues Haus mit großen Fensterbögen und spitzem Ziegeldach. Es war ein wenig windschief, aber die mit Blattgold verzierten Türen ließen es irgendwie königlich wirken. Durch die Bäckerei, mit direktem Blick auf den Marktplatz, kamen wir zu einer Wendeltreppe, bis wir schließlich schnaufend in unserer neuen Wohnung ankamen. Wir hatten sie gleich möbliert gekauft, damit wir so schnell wie möglich einziehen konnten und unsere Vermieter hatten wohl einen eher altmodischen Einrichtungsgeschmack gehabt. An den Wänden hingen Gemälde aller vorstellbaren Kunstrichtungen, am Boden lag ein leicht verstaubter Teppich und alle Möbelstücke waren in Eichenholz gehalten. Mein Zimmer verfügte sogar über ein eigenes Badezimmer und einen zwar kleinen, aber immerhin vorhandenem begehbaren Kleiderschrank. Nutzen würde ich den allerdings ziemlich wenig, denn ich sollte laut Plan schon morgen in ein Internat einziehen. Goldcastle hatte keine Highschool sondern eben nur ein Internat-aber was für eines. Wenn man den Bildern im Internet trauen konnte, befand es sich auf der Spitze eines Berges und war in einem alten Schloss untergebracht. Das war auch der Grund wieso Goldcastle naja Goldcastle hieß. Erschöpft ließ ich mich auf mein Bett fallen und schaute auf die Decke. Sogar die wurde von Malereinen von kleinen Engeln und Wölkchen geschmückt.Ich musste wohl so eingeschlafen sein, denn als ich das nächste mal die Augen aufschlug, rannte meine Mutter hysterisch durch mein Zimmer und packte abwechselnd Sachen aus beziehungsweise Sachen für meinen Internatsaufenthalt ein. Internat? Shit! So schnell wie ich konnte zog ich mir gleichzeitig irgendetwas was nach Kleidung aussah an und putzte mir die Zähne. Für mehr als Mascara reichte die Zeit nicht mehr, dann saß ich schon im Auto. Wow, mein erster Tag hier startete ja bereits hervorragend. So gestresst war ich lange nicht mehr und ein Blick in den Beifahrerspiegel zeigte mir auch, dass ich genauso aussah. Meine langen, pechschwarzen Haare hingen mir in unregelmäßigen Wellen in mein viel zu blasses Gesicht. Meine hellblauen Augen schienen trüb und ohne Lebenslust zu sein. Schnell versuchte ich mich auf etwas anderes zu konzentrieren. "Bist du aufgeregt mein Schatz?", wollte meine Mum von mir wissen. War ich das? Aufgeregt? Nicht wirklich. Seit dem Tod meiner Schwester war mir die Lust auf alles vergangen. Auch wenn meine Mutter hoffte, dass wir mit diesem Umzug einen Neuanfang starten würden, wusste ich, dass das nicht der Fall sein würde. Man konnte nicht einfach Schule wechseln und alles vergessen, aber ich wollte jeden im Glauben lassen, dass es mir gut ginge. Niemand will eine andere Antwort als "gut" auf die Frage "wie geht es dir", denn dann müssten sie weiter fragen und Mitleid vorspielen und das ist verdammt anstrengend. Mir wurde klar, dass ich die Frage meiner Mum immer noch nicht beantwortet hatte. "Ja total!" Meine stimme klang krächzend. So, als hätte ich sie ewig nicht mehr benutzt, was auch gewissermaßen der Wahrheit entsprach. Das Internat lag zirka zwanzig Minuten entfernt und meiner Meinung nach verging die Fahrt viel zu schnell. Nach einem langen Weg an Serpentinenstraßen, wo ich den Fahrstil meiner Mutter leicht anzweifeln musste, hatten wir unser beziehungsweise viel mehr mein Ziel erreicht. Das Internet hatte nicht gelogen. Das Schloss stand prachtvoll in Mitte eines sehr gepflegten Gartens vor uns. Zwischen einer Baumallee und den verschiedensten Blumensorten tummelten sich Schüler und Lehrer. Die Mauern des Internats wurden von Efeuranken und Gold verziert. Ich wäre gar nicht mehr aus dem Staunen herausgekommen, wäre ich nicht von einer sympathisch aussehenden Schülerin unterbrochen worden. Sie hatte blonde, glatte Haare und große rehbraune Augen. "Hi, du musst Mirela sein. Ich bin Amara und soll dich ein bisschen durch das Schulgebäude führen", sagte sie freundlich. Das war wohl das Zeichen für Abschied. Meine Mutter umarmte mich so fest und lange, dass es längst peinlich wurde, aber ich nahm es ihr nicht übel, schließlich verlor sie gewissermaßen nun auch ihre zweite Tochter. Sie sah mich ein letztes Mal mit ihren türkisblauen Augen an, die ich von ihr geerbt hatte."Du bist etwas ganz besonderes, Mirela", flüsterte sie, dann war sie weg. Ich raffte meine Schultern und folgte Amara durch das große Tor ins Internat. Auch von Innen war das Schloss nicht weniger eindrucksvoll. Die bestimmt jahrhundertalten Fließen spiegelten das Licht der eingerahmten Fenster so, dass eine helle, beinahe königliche Atmosphäre entstand. Plötzlich kam uns eine laut tratschende Mädchengruppe entgegen. Alle trugen Diademe und eine hatte sogar ein pompöses Kleid an. "Manche Schüler kleiden sich absichtlich wie im früheren Zeitalter. Ist sowas wie ein Trend geworden die letzten Jahre," erklärte meine Führerin die Situation. Na gut dann wusste ich schon mal welchen Trend ich nicht mitmachen würde. Nach einer ausführlichen Führung durch das Schulgebäude und einige interessante historische Fakten, kamen wir endlich in meinem Zimmer an und war anscheinend nicht alleine. Der wahrscheinlich attraktivste Mann den ich je gesehen hatte, hatte es sich aus meinem Bett gemütlich gemacht.
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Internat Goldcastle
Teen FictionSeit dem Tod ihrer Schwester geht in dem Leben der schüchternen Mirela alles schief. Um in einen Neuanfang zu starten, soll sie ins Internat Goldcastle ziehen. Dort findet sie gemeinsam mit einer anderen Gruppe von Teenagern Geheimnisse über ihre H...