Kapitel 1

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Der schwache Schneefall bildete einen leichten Schleier über den Straßen Miklans, der im sanften Licht des Mondes vorsichtig glitzerte. Ab und zu blitzte auch die tanzende Flamme der Nachtwächterlaterne auf. Ein eisiger Wind spielte mit den Flocken und schuf aus ihnen schemenhafte Gestalten, die verträumt durch die menschenleere Stadt tollten. Saia führte ihren schwarzen Hengst Aukor behutsam durch die glatten Gassen, wobei sie den nebulösen Geschöpfen des Windes nur wenig Beachtung schenkte. Die zwei Reisenden hinterließen feine Spuren auf dem knirschenden Untergrund und die kleinen Kristalle verliehen beiden eine kurzzeitige, gepunktete Musterung. In Darion ist der Winter eindeutig zu lang. Dachte die junge Frau ärgerlich, während sie ihren dunkelbraunen Mantel ein Stück enger zog. Darion war ein großes, inzwischen eigenständiges Fürstentum, das im Süden des Kontinents Aeriques unmittelbar neben einem riesigen, verschneiten Gebirge – dem „Kälteschlund" – lag, welches wiederum ins Eismeer mündete. Miklan galt als der abgeschiedenste Ort in dieser gewaltigen Tundra und genau deswegen hatte es Saia hierher verschlagen. Dennoch wies die Stadt eine erstaunliche Größe auf, aber der Schein trog. Bereits zur Abenddämmerung, die in diesen Gefilden sehr früh auftrat, verschwanden die Bewohner in ihren Häusern, um der gnadenlosen Kälte zu entfliehen. Eine Sitte, der Saia jetzt auch gerne Folge leisten würde, doch sie hatte den Ort erst kürzlich erreicht und irrte nun durch die Innenstadt. Ich brauche unbedingt dickere Kleidung und einen Schlafplatz, sonst komme ich heute Nacht noch um. 

Zielstrebig und zitternd näherte sie sich dem Nachtwächter; ihrem einzigen Hoffnungsschimmer. Zunächst hatte sie ihn für eine Statue am Straßenrand gehalten, weshalb sie beinahe erschrak, als er seinen Kopf in ihre Richtung wandte. Er sah Saia an, als sei er einer dieser zwielichtigen, schmierigen Gossenhändler, die jeder verabscheute, weil sie nur fragwürdige Waren anboten, während sie zeitgleich versuchten, unschuldige Einwohner mit trügerischen Verkaufsmaschen zu umgarnen. Der einzige Unterschied war – und das ließ ihn auch nicht unbedingt vertrauenswürdiger erscheinen – dass sein Blick, der jede ihrer Bewegungen zu verfolgen schien, dem eines hungrigen Raubtieres glich. Die grau-weißen Haare und der dichte Bart waren von einer hauchdünnen Raureifschicht bedeckt. Durch die unruhig flackernde Laterne leuchteten seine grauen Augen ein wenig wärmer. Stirnrunzelnd hob er sein Licht höher, um Saia besser zu erkennen, um sie noch eindringlicher anzustarren. Dabei bewegte er sich so steif wie ein Eisklotz. Dann lächelte er. 

„Ho, wusst' ich's doch: ein neues Gesicht. Eine Fremde. Kein Anderer wäre so verrückt um diese Zeit auf die Straße zu gehen."

„Abgesehen von euch", antwortete sie knapp in der Hoffnung, ohne ein längeres Gespräch den Weg zum nächsten Gasthaus zu erfahren. Allerdings hatte sie die Geschwätzigkeit ihres Gegenübers gewaltig unterschätzt.

„O ja, eine sehr undankbare Aufgabe. Es ist wieder mal schrecklich kalt heute. Ungeheuerlich. Sag mal, Kindchen. Du hast nicht zufällig ein kleines, wärmendes Schlückchen Rum für mich übrig?" Sie schüttelte den Kopf, woraufhin er enttäuscht das Gesicht verzog. „Bedauerlich. Sehr bedauerlich. Nun gut, sag schon. Was willst du hier in dieser von den Göttern verlassenen Stadt?"

„Den Göttern entfliehen ... und möglichst vielen Sterblichen", erwiderte sie knapp. Es war keine Lüge; sie hatte genug vom bunten Treiben in belebten Städten mit unerträglich großen Menschenmassen und natürlich von ihrem ätzenden Leben als Mietklinge. Sie war alldem schon längst überdrüssig. Dies sollte ihr letzter großer Auftrag sein.

Wieder meißelte sich ein mildes Lächeln auf das blasse, erstarrte Gesicht des Alten. „Ach, mein gutes Kind. Den Göttern kannst du nicht entkommen. Niemand kann das ... Auch wenn du in dieser Stadt wohl noch am besten aufgehoben bist", erklärte er verbittert mit einem wehmütigen Blick in die unbestimmte Ferne. Saia wollte sich keinesfalls unnötig lange mit dem Wächter aufhalten, seine Andeutungen hatten allerdings ihr Interesse geweckt. Vielleicht hatte es ja mit ihrem Auftrag zu tun.

Die BegegnungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt