Kapitel 2

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Aukor folgte Saia ungeduldig schnaufend auf dem Weg durch die ausnahmsweise zumindest etwas belebten Straßen Miklans. Gerade hatte die Sonne ihren Zenit überschritten und starrte wachsam auf das beschauliche Städtchen herab. Doch ihre Anwesenheit war Quelle falscher Hoffnungen, denn die trägen Strahlen vermochten nichts gegen die dicken Wände aus Schnee und Eis – welche die Stadt regelrecht erstickten – auszurichten. Ein rauer Wind glitt pfeifend durch die Gassen. Gierig durchdrang er alles Leben hier und ließ es unter seinem klirrenden Atem erzittern. Saias gute Laune war ebenfalls erstarrt und in eine dichte Eisschicht eingepackt. Es war nahezu unmöglich, etwas über den seltsamen Kauz des vergangenen Abends in Erfahrung zu bringen. Die meisten Einwohner huschten nur rasch vorbei und mieden jeglichen Kontakt. Sie waren nicht mehr als scheue Schatten; entwichen jeder Frage, jedem Blick. Schon seit mehreren Stunden pendelte sie vergeblich durch die Innenstadt mit der Hoffnung, irgendwelche Hinweise zu erhalten. Das ist doch alles sinnlos, keiner von ihnen wird mir jemals freiwillig etwas erzählen ... selbst wenn sie etwas wüssten. Dachte sie erschöpft. Schließlich kam sie auf einen Platz, auf dem ein kleines Feuerchen brannte. Ringsherum hatte sich eine kleine Gruppe fröhlich trinkender Leute versammelt. Die könnten etwas gesprächiger sein. Vielleicht hat der Met ihre Zunge gelockert. Sie zwang sich zu einem Lächeln und trat zu ihnen. Das herzliche Lachen verstummte augenblicklich. Misstrauische Augenpaare wurden auf Saia gerichtet. „Auf ein Wort. Ihr habt nicht zufällig einen alten Kauz mit grauen Haaren und langem, zotteligen Bart gesehen?", fragte sie vorsichtig in die Runde. Die vier Herren schienen wenigstens über die Frage nachzudenken; das war ein Erfolg.

„Ihr meint sicher Georn unseren versoffenen Nachtwächter. Der hausiert bestimmt in irgendeinem Gasthaus bis sie ihn rausschmeißen", antwortete einer von ihnen glucksend. Die anderen stimmten mit ein.

„Ja, und er saugt den armen Wirten das Bier aus den Fässern wie ein alter Vampir!"

Resigniert ließ Saia die Trunkenbolde mit ihrem schallenden Gelächter alleine. Die schlechten Witze hallten leider noch bis in die nächste Seitenstraße. Dort hielt sie inne. Auch wenn es auf den ersten Blick wie eine naheliegende und bequeme Antwort auf die Identität des Geschichtenerzählers schien, wollte sie sich nicht mit dieser Erklärung zufrieden geben. Georn also. Ja, er sah ihm recht ähnlich, das stimmt schon. Aber kann das wirklich sein? Ihre Stimmen waren doch völlig verschieden. Der klapprige Wächter war heiser, der andere hatte eine eher kratzige Stimme ... und er war sicher kein Säufer. Den Gedanken, Georn könnte der alte Kauz sein, den sie suchte, verwarf sie schnell wieder. Bereits in der vergangenen Nacht hatten ihr Fragen zu diesem mysteriösen Mann den Schlaf geraubt. Und obwohl es genug Gründe gab, sie zu verfolgen oder gar zu vergiften, war Saia verwirrt, woher er sie kannte und wie er sie gefunden hatte. Kommt er von einem ehemaligen Auftraggeber? Von der Gilde? Woher kennt er mich? Weshalb wollte er mich umbringen? Und was ist das für eine Geschichte? Hat er sie nur zur Ablenkung erzählt? Auch jetzt brachte ihr das viele Grübeln keine Antworten.


Indes streifte sie ziellos durch die Gassen, durchquerte die vielen Ladenstraßen, in denen unzählige Schilder baumelten. Die Häuser wirkten bei Tageslicht nicht ganz so trist und verlassen wie am vergangenen Abend, denn jetzt konnte man den ausgeblichenen Rotton der Backsteinwände ansatzweise erkennen. Eine dicke Eiskruste an den rauen Fassaden gab sich allerdings viel Mühe, die ursprüngliche Farbe zu vertuschen. Die Sonne lockte mit ihren falschen Versprechungen einige Bewohner aus ihren warmen Behausungen, wobei die meisten kaum als Menschen zu identifizieren waren. Durch die Straßen eilten lediglich ein paar lebendige Berge aus Pelzmänteln.

Beim trägen Stadtbummeln verlor sich Saia in ihren Gedanken. Ihr treuer Begleiter trottete ihr lustlos hinterher. Sie suchte nach Hinweisen, die sie zum komischen Kauz führen sollten. Mühselig durchforstete sie die Erinnerungen von ihrer Zeit in Kroia, denn dieser alte Mann verriet sich mit seiner Sprache, seiner Gestik, der gesamten Haltung und ungewöhnlichen Kleidung unweigerlich als Kroianer. Merkwürdig genug, dass er sich in diese Stadt oder überhaupt in dieses Land traute, aber was wollte er? Kannte ich ihn vielleicht schon vor meiner Zeit als Söldnerin? Kenne ich ihn aus Avredo...? Unmöglich!

Die BegegnungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt