Die sechte Nacht

100 8 2
                                    

Zu Dongjus Leidwesen war all der liegen gebliebene Schnee der vergangenen Woche bereits bis Mittwoch weggeschmolzen. Er hätte nichts gegen eine weitere Schneeballschlacht gehabt. Die Empfindung von Schnee unter seinen Stiefeln löste jeden Winter erneut Freude in ihm aus; der Anblick von kristallenen Flocken, die Hwanwoongs Haare verzierten, war ihm noch immer ins Gedächtnis eingebrannt. Selbst die kalte Luft hatte sich auf eine verheißungsvolle Weise anders angefühlt als sonst. Doch andererseits war Dongju nicht besonders scharf darauf, ein Déjà-vu ihrer letzten Nacht zu erleben und schob die verlorenen Hoffnungen zur Seite.

Wie hatte das nur passieren können? Er hatte keine Last für Hwanwoong werden wollen, nichts, worüber dieser sich den Kopf zerbrechen sollte, zusätzlich zu dem Konflikt mit seiner besten Freundin. Aber genau das hatte er bewirkt, indem ihm die Sache mit Dornröschen herausgerutscht war.

Er bereute alles so sehr wie noch nie zuvor. Vor allem, als er bemerkte, wie unsicher und nervös Hwanwoong neben ihm auf der Bank hin- und herrutschte.

"Uhm...hey, Dongju."

Da war es wieder. Dieses verfluchte Wort, welches unendlich viele Bedeutungen haben konnte. Heute klang es abwartend, vorsichtig und zaghaft. Als hätte Hwanwoong mit jedem Buchstaben Angst, etwas Falsches zu sagen. Es versetzte Dongju einen Stich ins Herz, und das Schlimmste war: er konnte es ihm nicht einmal verübeln.

Angespannt starrte er in die Ferne, wagte es nicht, sich Hwanwoong zuzuwenden. Trotz der verhaltenen Zögerlichkeit spürte er den brennenden Blick auf seinem Rücken. "Wegen...wegen letzter Woche..." fing Hwanwoong dann etwas unbeholfen an, wurde aber von Dongju davor bewahrt, das Geschehene tatsächlich auszusprechen. "Es tut mir leid. Wirklich. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du darauf eingehen würdest", gab er knapp von sich. Er hatte nicht so harsch klingen wollen, aber das war alles, was er dazu zu sagen hatte. Was er dazu sagen konnte.

"Oh...na dann," sagte Hwanwoong
lahm. Offenbar wusste er nicht, was er sonst noch darauf erwidern sollte.

Dongju hörte, wie sein Nachbar aufgewühlt seine Schuhe auf den feuchten Betonboden schleifen ließ, was ihn nur noch viel nervöser machte. Die Luft zwischen ihnen knisterte förmlich vor Anspannung. 

Und das ist alles nur, weil ich meine Klappe nicht halten kann.

Verzweifelt stöhnte er auf, stützte die Ellenbogen auf seine Oberschenkel. Das Gesicht vergrub er in seinen Händen, bevor er durch diese herauspresste: "Glaub mir, Hwanwoong, ich wollte das alles nicht. Ich wollte nicht, dass wir uns selbst nach einer ganzen Woche nicht mal mehr in die Augen sehen können. Hätte ich gewusst, dass du es wirklich machst, hätte ich...das nicht gesagt." Er musste fast schon ironisch lächeln, als ihm ihre Lage bewusst wurde. Nun war er derjenige, der seinem Nachbarn sein Herz ausschüttete, nicht anders herum. Bloß prasselte kein Regen unbarmherzig auf sie nieder, und statt zu weinen, hätte Dongju lieber seinen Frust in Form von einem von sich selbst verärgerten Aufschrei gezeigt. 

Auf einmal spürte er eine warme Hand auf seiner Schulter. Finger drückten sich sanft durch seinen Parka, leicht massierend, vermutlich, um ihn zu beruhigen. Dongju hielt den Atem an, als er hörte, wie Hwanwoong näher an ihn heranrutschte. Ihre Knie berührten sich.

Ein langer, nachdenklicher Atem entwich ihm. Warum war noch kein Wort darüber gefallen, dass sie den Kuss einfach vergessen sollten? Dass Hwanwoong noch weniger sprach als er war eine höchst ungewohnte Situation.

Ihm kam ein absurder Gedanke. Bereute sein Nachbar es denn überhaupt?

"Hwanwoong..." Langsam ließ er seine Hände sinken, fixierte aber immer noch verloren den mit hellgrauen Steinplatten bedeckten Boden unter seinen Füßen. Ihm lag eine Frage auf der Zunge, von der er sich unsicher war, ob er sie aussprechen durfte. Er musste die Antwort wissen, aber um welchen Preis? Entweder die ganze Situation würde nur noch viel unangenehmer werden oder eben nicht, mehr stand eigentlich nicht auf dem Spiel. Es klingt so lächerlich einfach...

Eine Stunde nach Mitternacht - Hwanwoong x XionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt