Kapitel 2

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Ich streckte mich gähnend und stellte meine nackten Füße auf den kalten Laminatboden, dessen hässlich braune Farbe mich an zweimal Verdautes erinnerte. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter und ich bekam sogleich Gänsehaut. Für Mitte November war es bereits ziemlich kalt und auch wenn mir durchaus bewusst war, dass diese Reaktion von den Nachwirkungen meines Traumes kam, war es wohl eine Überlegung wert, mir bald eine dickere Decke zuzulegen oder in der Nacht wenigstens Socken zu tragen. Doch darüber konnte ich mir auch später noch den Kopf zerbrechen. Jetzt brauchte ich erst einmal eine heiße Dusche.

Umständlich hievte ich mich aus dem Bett und ging zu dem ebenso hässlichen wie alten Holzschrank hinüber, in dem beinahe mein ganzes Hab und Gut Platz fand. Das war für achtzehn Jahre Leben zugegebenermaßen ziemlich erbärmlich, aber es genügte mir. Ich hatte alles, was ich zum Leben brauchte dort gebunkert und wenn es mir doch einmal an etwas mangelte, dann besorgte ich es mir eben neu.

Vorsichtig öffnete ich die beiden Schranktüren, darauf bedacht keine hektischen Bewegungen zu machen. Die Einlegeplatten im Inneren hielten schon seit ich hier eingezogen war nicht mehr richtig, weswegen es des Öfteren vorkam, dass alles auf einem Haufen am Boden des Schrankes lag. Mich störte das eigentlich wenig, das Genie beherrschte schließlich das Chaos, aber die Betreuer waren diejenigen, die wegen so etwas ständig Stress anfingen.

Es gelang mir tatsächlich den Schrank zu öffnen, ohne dass es danach aussah, als hätte im Inneren ein Tornado gewütet. Schnell griff ich mir eine schwarze Jeans mit Löchern an den Knien, schwarze Stricksocken, schwarze Spitzenunterwäsche, schwarze Stulpen und - wie konnte es auch anders sein - einen schwarzen Pullover mit der Aufschrift ,,Ich bin übrigens nie gestresst. Es gibt nur gute und weniger gute Zeiten, mir eine Kettensäge zu überlassen". Dann schloss ich den Schrank behutsam wieder und klemmte mir die Klamotten unter den Arm. Wenigstens hatte ich bei der überschaubaren Auswahl keine Probleme, mir mein Outfit zusammenzustellen. Es sollte ja angeblich Menschen geben, die dafür Stunden brauchten.

Als ich ins Bad ging, fiel mein Blick auf das zweite Bett, das unbezogen und verlassen gegenüber von meinem stand. Nur meine Jacke und ein paar Bücher lagen darauf und störten das aufgeräumte Bild. Aber da es sowieso seit Ewigkeit nicht mehr benutzt wurde, konnte ich es schließlich auch als Ablage missbrauchen.

Eigentlich hätte hier einmal meine Mitbewohnerin schlafen sollen. Die letzten Zwei wollten jedoch nach höchstens drei Tagen wieder gehen, was ich mir beim besten Willen nicht erklären konnte. Schließlich hatte ich sie äußerst freundlich mit den Worten ,,Hallo, ich bin Avery und du musst mein neues Opfer... ähhh meine neue Mitbewohnerin sein. Die Letzte ist übrigens durchgedreht und ist jetzt irgendwo in psychischer Behandlung. Wir werden sicher Spaß haben" begrüßt, während ich mit meinem Taschenmesser Muster in den Schreibtisch ritzte und als Willkommensgeschenk gab es eine Kette mit einem wunderschönen Galgenanhänger. Seitdem wurde auch kein Versuch mehr unternommen, jemanden mit mir in ein Zimmer zu stecken. Man hielt es für keine allzu gute Idee, die Neuankömmlinge gleich so zu verschrecken. Schließlich kamen sie gerade frisch in ein ihnen unbekanntes Heim und da wollten sie ihnen nicht auch noch den "Hoffnungslosen Fall" zumuten. Es hatte mich sowieso gewundert, dass sie nach meinen ganzen Vorstrafen überhaupt den Versuch unternahmen, jemanden mit mir in einem Zimmer wohnen zu lassen. Ich war ein schlechter Umgang, wie sie nie müde wurden zu betonten. Und ja, sie hatten Recht. Ich gab ein ziemlich schlechtes Vorbild ab. Aber was interessierte es mich schon, was andere über mich dachten. Sollten sie sich doch die Mäuler zerreißen.

Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, als ich an die verzweifelten Blicke meiner Betreuer dachte, die mit Engelszungen auf mich einredeten und seit ich denken konnte versuchten, mich auf die rechte Bahn zu bringen. Mit mäßigem Erfolg, wie man sah. Ich war eben unbelehrbar - hieß es wenigstens immer.

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