Auf den linierten Seiten des Heftes steht Folgendes in Koreanisch geschrieben:
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Die Welt, sie wie wir sie kannten, existiert nur noch in unseren Köpfen. Wir haben alles verloren, wir haben die verloren, die wir lieben. Doch auf dem Grund des Chaos, in das wir gestürzt wurden, fanden wie den Beginn. Keine Hoffnung, aber die wage Gewissheit, dass etwas Neues entstehen könnte.
Wir könnten die letzten Bewahrer sein, die sich erinnern. Es verpflichtet uns, alles aufzuzeichnen, das uns widerfährt. All die Bücher, die in der Blauen Nacht zerstört wurden, all die Fotos, Dokumente, Zeugnisse unseres menschlichen Daseins, die brannte und die nie wieder auf Smartphones, Laptops oder im Internet abgerufen werden können. Jetzt gibt es nur noch uns, wir wandern durch die uns zuvor unbekannten Regionen des ehemaligen Europas. Die einstigen Wahrzeichen erblicken wir nun verkümmert, verschüttet, zu unkenntlichen Formen verkommen. Das ehemalige Berlin, das in der Blauen Nacht Zeuge unseres zweiten Deutschlandkonzertes hätte werden sollen, wurde innerhalb weniger Stunden überrannt. Bis heute ist uns nicht klar, wie wir überlebt haben – nun ja, die Opfer, die unser Staff für uns gebracht hat. Daran zu denken, dass sie sich für uns aufgegeben haben, trieb mir in der ersten Zeit noch die Tränen in die Augen, jetzt denke ich manchmal daran, ob es denn gerechtfertigt war, dass sie an unserer Stelle gestorben sind. Wir sind doch letztendlich nicht mehr wert als jedes Menschenleben, das in jener Nacht und seitdem erloschen ist.
Wir wandern seit unzähligen Tagen - Moment, das stimmt nicht, es sind genau Dreihundertdreiundsechzig – das muss ich sofort notieren. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so viel Wert auf diese Details legen würde, früher hätte ich nie über solche Dinge geschrieben. Ich habe Fotos und Videos mit meinem LG-Smartphone gemacht. Die Dinge und Menschen dokumentieren, die mir gut tun, ich fühlte mich leicht, war zufrieden und stolz auf den Erfolg, den wir uns gemeinsam erarbeitet hatten. BTS, das Ergebnis unserer gemeinsamen harten Arbeit, die Jungs, die mir jeden Tag Kraft gaben, noch weiter über mich selbst hinauszuwachsen. Ich versuche mir diese Gefühle zu bewahren, aber es wird zunehmend schwer.
Am Anfang waren wir alle so traumatisiert, dass uns nur der Überlebenswille weitermachen ließ. Dann gab es die leicht hysterische Phase, in der ich hoffte, auf weitere Überlebende zu treffen – ich stellte mir vor, wie es wäre mit ihnen gemeinsam ein neues Zuhause zu erschaffen. Fern von der Gefahr. Wir würden Wege finden, die uns wieder zu einem Leben führen würden, das aus etwas anderen außer Überleben bestehen würde.
Ich wollte wieder Tanzen und Rappen! Und lachen und reisen und ausgehen und meine Familie sehen und ARMY und...
Genug davon, ich verliere mich wieder in Gedanken und verschwende Platz in dem Heft, in das ich schreibe. Namjoon sagt, dass wir nur die Dinge aufschreiben sollen, die wichtig sind. Wenn ich frage, was denn wichtig sei, kann er es mir nie genau beantworten. Er brummelt dann höchstens etwas von „Kulturerbe", „Sprache", „Demian". Ich schreibe also über, das was uns passiert, das können tagelang nur Aufzählungen des Wetters und unsere katastrophalen (Tae ist der schlimmste Koch überhaupt!) Kochversuche ohne Strom sein und dann wieder lange Passagen über Träume und Wünsche oder Erinnerungen, die mir in den Sinn kommen. Also, wer auch immer dies lesen mag, bitte sei nachsichtig mit mir, ich hatte nie geplant über diese Nach-Welt berichten zu müssen.
Wir wissen nie wo wir uns befinden, das Stromversorgungsnetz ist längst zusammengebrochen. Namjoon und Yoongi haben auf der Reise nach und nach Deutsch gelernt und wir orientieren und eher schlecht als recht an Karten und Straßenschildern. Keiner der Orte, die wir gefunden haben, war sicher. Am wenigsten die großen Städte, wie Dresden, Leipzig, Cottbus, Chemnitz, aber auch in den kleinen Dörfer wurden wir angegriffen.
Heute Morgen verließen wir „Paderborn", vormals anscheinend eine eher langweilige, beschauliche Kleinstadt, und laufen auf einer verlassenen Straße in Richtung „Bielefeld". Es macht mich nervös, die Autos, LKWs und Motorräder zu sehen, die entweder ausgebrannt und ineinander verkeilt sind oder säuberlich geparkt am Rand des Asphalts stehen. Jedes Geräusch erinnert mich daran, dass die Natur nicht länger friedlich ist. In den Wäldern um uns herum lauern sie. Auf der Straße können wir zumindest sicher sein, dass wir sie rechtzeitig bemerken.