Kapitel 1
LIVIA BAKER
Aus unbekannten Gründen war ich ohne Licht zur Welt gekommen. Die Stille erdrückte mich. Zu ruhig. Keiner da. Der PC war vor mir. Flachatmend. Das Herz in der Brust raste. Meine Sinne geschärft. Dann die Zeichen unter meinen Fingerkuppen. Ich erschloss mir Wort für Wort, Zeile für Zeile, Seite für Seite.
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Eintrag 1, 25.01.2030.
Ich war blind vor Liebe! Blind vor unbändiger Gier nach ihm! Dass musst du wissen, bevor ich dir diese Geschichte erzähle, die mir heute vor sechs Jahren widerfuhr. Ich gebe dir nur einen Rat: Suche nicht nach ihm. Du wirst zerbrechen, wie ich zerbrochen bin! "Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert". Begehe nicht denselben Fehler wie ich.
Er kam vor ungefähr sechs Monaten zu uns. Seine Blicke waren kühl, hatten etwas Geheimnisvolles an sich. Etwas, was ich um jeden Preis herausfinden musste. Doch ob es mir gelingen würde, wagte ich in diesem Moment zu bezweifeln.
Es war einst ein klarer Sommerabend, in dem es geschah. Die Vögel zwitscherten ihre Liedchen, die Sonne schien und warf ihre letzten Strahlen ab, bevor sie im blauen Himmel versinken würde. Kinder spielten lachend auf einem Spielplatz. Ich sah ihnen zu und hatte mich derweil auf einer Bank niedergelassen. Mein Körper war in jenem Moment völlig entspannt, völlig frei von Sorgen, frei von ihm; Frei von den Problemen, die sich anbahnten.
Als ich jedoch im Begriff war aufzustehen, hörte ich sie. Die Stimme, die ich aus tausenden von Leuten wiedererkennen würde. Die Stimme, die mir alles versprochen hatte! Die Stimme, die ich nie vergessen werde. Die, die geradewegs auf mich zukam und ein breites Grinsen aufgesetzt hatte. Ich weiß noch zu gut, wie es in jenem Augenblick aus mir herausplatzte. «Hast du nichts Besseres zu tun!»
Es herrschte Schweigen, nachdem die Worte meinerseits gefallen waren. Die Vögel wurden leiser, das Lachen und Schreien der Kinder wurde zu einem dumpfen Gemisch aus unverständlichen Fetzen. Die Sonne, die auf meine Haut schien, wurde heißer und heißer. Sie verätzte mich.
Langsam glitt er von einer aufrechten Position in eine Kniende. Fragend blickte ich zu ihm hinunter und sah mich mit seinen eisblauen Augen treuherzig an. Die Frage, die er mir im Anschluss stellte, habe ich noch gut in Erinnerung. Sie brannte sich in mein Gedächtnis, in meine Netzhaut.
«Bella», begann er mit leiser, fast flüsternder Stimme, «es gibt einiges, was ich dir sagen möchte. Womit soll ich nur anfangen? Mit was soll ich... Es ist viel in den Monaten passiert. Viel zu viel. Zu lang, um alles aufzuzählen, daher mach ich es kurz: ich habe dir das Leben zur Hölle und dich fertig gemacht. Vor allen, vor deinen Freunden, dich vor der Schule bloßgestellt, dich gedemütigt. Jedoch hoffe ich, dass du mir das eines Tages verzeihen kannst. Ich habe es nur aus einem Grund getan.»
Er hatte seinen Monolog unterbrochen, um etwas aus seiner Tasche zu holen. Was es jedoch war, konnte ich nicht sehen. Er hatte es in seiner linken Faust versteckt.
«Bella Baker!», rief er aus vollem Halse und riss mich mit sich. Verschiedene Blicke mussten wohl auf uns ruhen, denn er zog mich enger an seine starke Brust, die mir Schutz versprach. «Willst du mich heiraten?»
Kein Ton. Schweigen. Stille. Erdrückend. Sich langsam nährend. Mich in seine Klauen ziehend, mich an sich reißend, sie mir in die Haut bohrend. Schmerzen: Große Schmerzen! Sie bringen mich um, zerfleischen mich.
Sein Körper verschwindet. Löst sich auf. Zerfließt in einer gallertartigen Masse. Fällt von mir ab. Bedeckt den Boden. Formt sich zu einem Schleimklumpen. Sickert in den Boden.
Suche nicht nach ihm, behalte dieses Geheimnis für dich! Versprichst du es mir?
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«NCA, Sie sind verbunden mit Livia Baker. Was kann ich für Sie tun?»
«Excuse me, miss Baker. Could you repeat that?», sprach ein älterer Mann in amerikanischem Akzent.
«Jolene Evans, how can I help you, MR. Pearce?», griff ihre Kollegin ein, nachdem sie das Gespräch auf ihr eigenes Telefon umgeleitet hatte. Unwillkürlich rollte Livia mit den Augen und legte den Hörer auf die Station. Im Hintergrund konnte sie Jolene mit dem Mann hören. Seufzend stand sie auf und ging in die Kantine, um sich einen Kaffee zu machen.
«Du ziehst ja ein Gesicht, als wäre draußen die Welt untergegangen», meinte Claire, die ihr eine Tasse reichte.
«Evans ist passiert», erklärte Livia und stellte die Tasse unter die Kaffeemaschine.
Leise lachte Claire. «Vergesst euren vermaledeiten Streit. Ihr benehmt euch wie kleine Kinder.»
Sie rollte mit den Augen. «Dann sag ihr das.»
«Du hast meine Frage nicht beantwortet?»
Nachdem sie den Inhalt entfernt hatte, nahm Livia einen vorsichtigen Schluck, bevor sie erzählte. «Ein Amerikaner war am Telefon. Gerade als ich etwas erwidern wollte, hat sie... Ach, das ist kindisch. Vergiss es.»
Ohne auf Claires Antwort zu warten, lief sie in ihr Büro, setzte sich an ihren Schreibtisch und beantwortete einige Mails.
«Du solltest die Chips benutzen, wenn das Telefon klingelt und wir einen wichtigen Kunden dran haben», maulte Jolene sie an.
Ruckartig drehte die Angesprochene ihren Kopf herum. «Und wenn ich sie nicht nutzen will?!»
«Solltest du aber, wenn du niemanden vergraulen möchtest, Baker», zischte Jolene.
«Leck mich.»
«Was hast du gerade gesagt, du kleines Miststück?!»
«Dass du mich mal kreuzweise kannst!»
«Ich. Mach. Dich. Fertig!», knurrte Jolene und kam ihr immer näher.
Livia lachte abfällig. «Versuch es doch.»
Als sich die Tür öffnete und jemand hereintrat, verstummten die Streithähne. Murrend wandte sich Livia ab und murmelte leise Worte vor sich hin.
Leg sie doch auf eine Streckbank. Vielleicht hilft es.
Ihre innere Stimme kam auf Ideen. Auf eine Streckbank. Die war doch nicht ganz dicht.
So wie du.
Diesen Kommentar ignorierte sie geflissentlich und nahm ab, als das Telefon erneut klingelte.
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MELODY BAKER
Sie hatte das Gespräch gerade beendet, als ihre Schwester in das Büro platzte.
«Wollen wir gehen? Ist ja eh kaum noch jemand da und außerdem haben wir sowieso Schluss.»
Melody seufzte. «Warte einen Augenblick. Ich schreibe die Mail noch fertig.»
«Kannst du das nicht morgen machen?»
Sie konnte deutlich heraushören, dass Livia genervt war. Melody schüttelte den Kopf, obwohl sie wusste, dass Livia es nicht sehen konnte. Es war ihr jedoch gleichgültig. Schnell tippte sie ihren letzten Satz, fuhr den Rechner herunter und schnappte sich ihre Sachen.
«Jetzt können wir gehen.»
«Das hat ewig gedauert», meckerte Livia und griff sich den Arm ihrer Schwester. Beide verließen das Büro, klappten ihre weißen Stöcke auf und verschwanden aus dem Gebäude der NCA.
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Zwischen zwei Welten
Teen Fiction+++TEIL ZWEI+++ Eine Person. Zwei Kämpfe: Zum einen der Kampf zwischen Vergebung und maßloser Rache an ihrem leiblichen Vater. Zum anderen der Kampf zwischen zwei Kolleginnnen, die einander nicht ausstehen können. Wer wird siegen? Wer wird ihn für s...