Kapitel 2
LIVIA BAKER
Sie saßen gemeinsam am Esstisch und schaufelten sich schweigend die Mahlzeit in ihre Bäuche, die vor einigen Minuten aus dem Ofen geholt wurden. Eine Frau kam herein und setzte sich. Augenblicklich legten die Mädchen ihr Besteck auf die fast leeren Teller. Leise lachte die Frau und streichelte beiden über die Köpfe. Genervt rollte Livia mit ihren trüben Augen und schob die Hand fort.
«Wie war euer Tag?»
Livia zuckte mit den Schultern. «Wie immer.»
«Ich glaube, dass sie sich wieder mit Jolene gezofft hat», beteiligte sich ihre Zwillingsschwester und klopfte Livia auf die Schulter. Dabei riss sie ein Wasserglas um, sodass die Flüssigkeit sich über ihr ganzes Oberteil verteilte.
Hastig sprang Livia auf. «Spinnst du!»
Ihre Stimme zitterte vor Wut und sie musste sich beherrschen, um nicht gleich vor versammelter Mannschaft auszuflippen.
«Das ist doch nur Wasser», versuchte Melody die Situation zu retten. Doch Livia wandte sich mit wutverzerrtem Gesicht ab und stürmte aus dem Zimmer.
«Ich werde mal nach ihr sehen. Kannst du in der Zwischenzeit aufräumen?»
Das waren die letzten Worte, die Livia vernahm. Dann hatte sie ihre Zimmertür schon zugeknallt und den Schlüssel im Schloss herumgedreht, sodass niemand ungefragt hereinkommen konnte.
Ausgerechnet heute musste sie eine Erinnerung überkommen. Seufzend fiel sie auf ihr Bett und vergrub das Gesicht in ihrem weichen Kopfkissen.
Sie vermisste ihre Mutter schmerzlich. Wieso hatte sie sich das verdammte Leben genommen und sie allein gelassen? Konnte sie nicht einfach mit ihrem Vater sprechen?
Wie denn, wenn dein Vater sie wie Luft behandelt hat.
Das stimmte wohl. Vor einigen Wochen hatte sie die ganzen Einträge gelesen. Nur eine hälfte fehlte ihr noch. Sollte sie weiterlesen? Als sie gerade dabei war, ihren Rechner zu öffnen, hörte sie ein zaghaftes Klopfen an der Tür. Leise schniefte sie und versuchte sich, so gut es eben ging, ruhig zu verhalten. In diesem Zustand wollte sie mit niemandem reden. Und schon gar nicht jemandem unter die Augen treten.
«Livia?», erklang die fragende Stimme ihrer Adoptivmutter. «Lass mich rein.»
Sie konnte nicht. Niemand sollte sie in diesem Zustand sehen. Daher schwieg sie und zog sich die flauschige Decke über den Kopf. Vielleicht würde sie dann verschwinden. Pustekuchen: nichts da. Ihre Adoptivmutter blieb hartnäckig. Und Livia konnte die gedämpften Worte hören.
«Ach komm schon, Livia. Du bist sechzehn und kein kleines Kind mehr. Lass uns wie zwei erwachsene Frauen darüber reden.»
Die Angesprochene blieb standhaft und presste sich nun ein Kissen auf den Kopf. Wieso verstand niemand, dass sie keine Lust zum Reden hatte?!
Weil sie deine Gedanken nicht lesen können.
Wütend fauchte sie ihre innere Stimme an und verfluchte sie, weil es keinen Ausweg gab, diese endgültig aus ihrem Hirn zu brennen.
«Das wird noch ein Nachspielhaben, Livia. Darüber werden wir noch reden!»
Nachdem die Schritte verklungen waren, schlug sie mit geballter Faust auf das Bett. Der Schrei, welcher in ihrer Kehle steckte, fühlte sich schrecklich an. Am liebsten würde sie jetzt diesen verfluchten Schrei ausstoßen, doch das würde alles nur noch schlimmer machen.
Seufzend stand sie auf und stellte sich vor den Spiegel. Wenn Livia die Chips benutzen würde, dann hätte sie gewusst, wie sie aussah. Aber das war ihr scheiß egal. Vorsichtig streckte sie ihre Hand nach dem Spiegelglas aus und streichelte darüber. Es fühlte sich glatt an. Und es war handwarm, da sie immerzu an derselben Stelle verweilte.

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Zwischen zwei Welten
Teen Fiction+++TEIL ZWEI+++ Eine Person. Zwei Kämpfe: Zum einen der Kampf zwischen Vergebung und maßloser Rache an ihrem leiblichen Vater. Zum anderen der Kampf zwischen zwei Kolleginnnen, die einander nicht ausstehen können. Wer wird siegen? Wer wird ihn für s...