Träumerei in Venedig

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Category: poetry slam
Language: German/Deutsch
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Morgens mit einem Espresso auf dem Balkon der viel zu kleinen Wohnung sitzen,
Efeu rankt sich an den Gitterstäben hoch. Unter uns deer Canal Grande, Vaparettos
ziehen vorbei. In der Wohnung duftet es nach selbstgebackenem Brot. Überall sind
frische Kräuter und die verschiedensten Gewürze säumen die Regale der winzigen
Küche. Unzählige Pflanzen stehen im Wohnzimmer. Die Wohnung ist zu klein für ein
separates Schlafzimmer, deswegen steht in der Ecke das ungemachte Bett, gebaut
aus Europaletten. Die Wände sind vollgestellt mit Bücherregalen, für einen Fernseher
ist kein Platz. Auf dem kleinen Kaffeetisch vor dem grauen Sofa steht dein Laptop,
geöffnet, ein unfertiges Skript offenbarend, daneben liegt eine halbfertige Zeichnung
von mir, die Bleistifte über den ganzen Tisch verteilt. Durch die gesamte Wohnung ist
eine Wäscheleine gespannt, auf der unsere Kleidung trocknet, duftend nach Zitrone.
Wir sitzen auf dem Balkon, trinken unseren Kaffee und, obwohl alles um uns herum
laut ist, ist es doch für diesen Moment ruhig. Der Kaffee ist leer, die Welt wird wieder
laut, wir machen uns an die Arbeit. Du tauscht deine Schlafkleidung gegen Hemd,
Hose, Sneaker und braune Kuriertasche, setzt deine Brille auf. Ich tausche meine
Schlafkleidung gegen Bluse, Rock, Ballarinas, binde meine Haare zu einem Zopf,
greife meine Tasche. Gemeinsam verlassen wir die Wohnung, gehen gemeinsam zur
Arbeit. Du öffnest die örtliche Bibliothek, ich schließe das Café nebenan auf. Ich kann
dich durch die großen Fenster sehen, wie du alle Lampen anmachst, dich an den
Tresen setzt, die Post durchgehst und schlussendlich deinen Laptop aus deiner
Tasche holst und weiter schreibst. Ich binde mir meine Schürze um und fange an,
deinen Kaffee zu machen, so wie jeden Morgen. Ich schreibe das neue
Tagesangebot an die Tafel, nehme die Stühle von den Tischen und schalte sämtliche
Lichterketten und die Musik an. Ich bringe dir deinen Kaffee. Du greifst abwesend
nach dem Becher, bist in dein Skript vertieft. Einzelne Haarsträhnen fallen dir in die
Augen. Du musst dringend zum Frisör, doch findest keine Zeit dazu. Ich gehe zurück
ins Café, schaue ab und zu zu dir rüber, sehe, wie du Bücher ausgibst, sehe diese
Bücher nur einige Augenblicke später im Café an einem Tisch, neben einer Tasse
Kaffee, aufgeschlagen, deine Anmerkungen preisgebend. Wir arbeiten so vor uns
hin, Hand in Hand, den ganzen Tag. Abends gehen wir zusammen einkaufen.
Biscotti, Oliven, neue Kräuter und Käse für das Brot vom Morgen. Wir gehen noch
eine Weile spazieren, die Wärme der Sonne auf der Haut spürend. Wir lassen uns
Zeit, keiner da, der uns stresst. Später, zurück in der kleinen Wohnung, legst du ein
neues Buch auf das ungemachte Bett, das machst du oftmals. Währenddessen
schneide ich in der Küche das Brot. Wir sitzen auf dem Balkon, schauen uns den
Sonnenuntergang über dem Canal Grande an, essen das Brot, trinken Wein und
reden über alles und nichts. Die Sonne ist nun endgültig untergegangen und man
kann die Sterne sehen und so sitzen wir noch auf dem kleinen Balkon, schauen in die
Sterne, halten uns an den Händen und schweigen und sagen dabei doch so viel. Es
wird zu kalt, zu spät und wir gehen ins Bett. Ich liege in deinen Armen und du liest
mir aus dem neuen Buch vor. Ich fühle mich sicher, geborgen. Die Geräusche der
Stadt scheinen zu verstummen, deine Stimme füllt die Stille. Ich schließe meine
Augen. Ich bin zuhause.
Morgens wache ich auf, bin zuhause in meinem kleinen Zimmer, im kleinen Bett, in
der kleinen Stadt. Alles nur ein Traum. Ich schaue nach links, sehe dich neben mir
liegend, leise atmend, ein feines Lächeln umspielt deine Lippen. Eben noch
enttäuscht, dass unser gemeinsames Leben in Venedig ein Traum war, bin ich nun
trotzdem glücklich, denn, obwohl wir bis auf weiteres in dieser kleinen Stadt
festsitzen, du warst kein Traum.
Du bist mein Zuhause.

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