Sie lief. Unaufhaltsam. Stur. Immer weiter.
Sie ignorierte den kalten Wind, welcher ihr eiskalt ins Gesicht wehte. Dem Schneetreiben um sie herum schenkte sie keine Beachtung. Es hätte noch so eisig sein können und es hätte sie doch nicht interessiert. In dieser Nacht zählte nur eines – Abstand.
Sie wollte weg. Weg von allem. Weg von Jedem der sie kannte.
Ihre Schuhe waren durch die Schneemassen durchnässt und sie hatte schon lange das Gefühl in ihren Zehen verloren. Es war ihr egal. Der Schmerz war schon lange versiegt. Auch wenn sie sich sämtliche Gliedmaßen abgefroren hätte, wäre es ihr Gleichgültig gewesen solange sie nur von diesem schrecklichen Ort wegkäme.
Ihr Entschluss war kurzentschlossen und spontan gefallen. Viel zu lange hatte sie sich allen untergeordnet und ihre Bedürfnisse beiseitegeschoben. Es war ihr nie von großer Wichtigkeit gewesen auf ihr eigenes Wohl zu achten. Bis zu diesem Tag.
Eigentlich hatte alles so schön angefangen. Um genau zu sein mit einem Brief. Schon lange hatte sie auf ihn gewartet und endlich hatte sie ihn in den Händen gehalten. Mit zitternden Fingern hatte sie den Umschlag noch vor dem Haus, neben dem Briefkasten geöffnet und jedes einzelne Wort welches mit der königsblauen Tinte einer Füllfeder auf ein blütenweißes Blatt geschrieben worden war in sich aufgesaugt. Anschließend war sie mit den Fingern über die blau schimmernde Unterschrift gefahren, welche am Ende des Geschriebenen gesetzt worden war. Nur um sicher zu gehen, dass sie echt war. Dabei waren ihr ein paar Tränen von der Wange hinunter auf das Blatt gefallen und hatten einige blaue Buchstaben verwischt. Jedoch war ihr dies egal gewesen. Wie auf Wolken war sie anschließend ins Haus gelaufen und die Treppen zum Esszimmer emporgestiegen. Freudig hatte sie ihre Eltern davon in Kenntnis gesetzt, dass sie in die Stadt fahren würde um ihn endlich wiederzusehen. Dabei hatte sie den Brief auf den Tisch gelegt, sodass ihre Eltern ihn auch lesen konnten. Doch sie teilten die Freude ihrer Tochter nicht sondern waren erbost gewesen, dass nach so vielen Wochen, plötzlich ein Brief von ihm angekommen war. Was dann geschah brach ihr Herz.
Sie verboten ihr die Reise. Erklärten ihr, dass es sich nicht gehört sich mit einem Fremden zu treffen. Sie nahmen den Brief und warfen ihn in das Kaminfeuer. Es wäre nicht richtig zu ihm zu gehen. Reinste Zeitverschwendung. Sinnlos. Töricht.
Der Schmerz welcher sich bei diesen Worten ihn ihr ausbreitete war unerträglich und raubte ihr fast den Atem. Sie wollte nicht auf ihre Eltern hören. Zum ersten Mal wollte sie sich ihnen wiedersetzen. Doch fand den Mut nicht dazu. Stattdessen schwieg sie und blickte in das Kaminfeuer, wo der lang ersehnte Brief sich in Asche verwandelte.
Anschließend war sie in ihr Zimmer verschwunden und hatte das Foto zur Hand genommen, welches sie unter ihrem Kissen versteckte. Wieder und wieder war sie mit ihren Fingern über das Bild gefahren und musste bei der Erinnerung lächeln. Das Foto zeigte sie mit ihm. Fröhlich. Lachend. Voller Lebensfreude. Es war kurz vor seiner Abreise gemacht und entwickelt worden. An diesem Tag hatte er ihr ein Versprechen gegeben, dass sie sich, egal was passieren würde wiedersehen werden.
Sie blickte hoch und sah ihr Spiegelbild an. In diesem Moment hatte sie einen Entschluss gefasst. Sie würde zu ihm reisen. Falls sie es nicht machen würde, könnte sie es sich ein Leben lang nicht verzeihen. Sie ließ sich ihre Trauer den ganzen Tag nicht anmerken und gab so ihren Eltern den Anschein, dass sie sich damit abgefunden hatte, ihn nicht wiedersehen zu dürfen. Dann abends, als ihre Eltern sich zu Bett begeben hatten, war sie aufgebrochen. Schnell hatte sie das wenige Geld, welches sie besaß aus einem Kästchen geholt, sich einen Mantel und Schuhe angezogen und war in die Nacht hinaus gelaufen.
Dies war nun schon mehrere Stunden her. Wolken hatten sich zusammengetürmt, Wind war aufgekommen und schon bald war ein gewaltiger Schneesturm im Gange gewesen. Die Temperaturen sanken immer weiter unter den Gefrierpunkt und ließ ihre Wangen vor Kälte erröten, ihr Atem bildete kleine Wolken und ihre Fingerspitzen färbten sich bläulich. Sie ließ sich davon aber nicht abhalten. Bis zur Eisenbahnstation war es nicht mehr weit und sie wusste, dass sie es schaffen konnte. Sie durfte nur nicht stehenbleiben. Nicht aufgeben. Keine Sekunde zögern.
Meter für Meter kämpfte sie sich weiter. Meter für Meter kam sie ihrem Ziel näher. Meter für Meter kämpfte sie für ihren Traum. Sie wollte endlich frei sein und ihre eigenen Entscheidungen treffen. Dafür musste sie durch diese eiskalte Nacht und durch diesen Schneesturm.
In dem kleinen Dorf hatte ihr verschwinden schnell die Runde gemacht. Suchtrupps waren organisiert worden und jeder hatte in dieser Nacht kein Auge zugetan. Ihr Name wurde tausendmal in das Schneetreiben gerufen, bis man sie endlich in den frühen Morgenstunden, als der Sturm vorüber war, fand. Sie lag am Wegrand zusammengekauert im Schnee. Die Lippen schimmerten blau, ihre blasse Haut war von einigen Schneeflocken bedeckt, die braunen Augen geschlossen. Die letzten Atemzüge schon vor einiger Zeit ausgehaucht.
In der linken Hand hielt sie das Foto.