1. Orientierungsschwierigkeiten

10.9K 475 101
                                    

Alle Augen sind auf mich gerichtet, als ich das kleine Café mit dem sympathischen Namen ‚Bellissima' betrete. Willkommen in der Kleinstadt, denke ich und lächle die Kellnerin hinter dem Tresen freundlich an.

»Hi«, begrüße ich sie. »Ich suche den Scotsmore Drive. Könnten Sie mir sagen, wie ich da am besten hinkomme?«

Nur ich schaffe es, mich in einem Ort, der gerade mal knapp über eintausend Einwohner und gefühlte drei Straßen hat, zu verfahren. Orientierung war noch nie meine Stärke, würde mein Vater jetzt sagen und dabei nicht nur mein räumliches Vorstellungsvermögen meinen.

»Sie sind der neue Doc, oder?«, fragt mich die kleine, rothaarige Frau direkt.

Okay, der Buschfunk scheint hier gut zu funktionieren.

Ich lächle verlegen und nicke. »Das ist richtig. Nur kann ich meine Arbeit erst beginnen, wenn ich die Praxis auch finde.«

Kurzerhand wirft sie ihre Schürze über einen der Barhocker und ruft einem Mann, der an einem der Tische sitzt, zu: »Kevin, übernimm du kurz mal, ich bring den neuen Doc zu Eddie.«

Verwirrt runzle ich die Stirn und folge ihr aus dem Café.

Anerkennend pfeift sie durch ihre Zähne. »Deiner?«

Ich nicke verlegen, denn sie meint ganz offensichtlich meinen schwarzen Aston Martin DB11, den ich vor dem Café geparkt habe.

»Wenn ich gewusst hätte, dass man als Doc bei Eddie so viel verdient, hätte ich nicht nach der Neunten die Schule geschmissen«, erklärt sie und streicht ehrfürchtig mit ihrer Hand über den Lack.

»Oh«, lache ich verlegen. »Das war mein Geschenk zum Examen. Mein Vater neigt zu Übertreibungen.«

Sie mustert mich mit erhobener Augenbraue. »Dein Vater sehnt sich nicht zufällig nach einer Tochter, die er nie hatte, oder?«

»Ich habe eine Schwester«, antworte ich.

Die Kellnerin seufzt theatralisch. »Das war ja klar. Darf ich wenigstens fahren?«

Ich zucke mit den Schultern und bedeute ihr einzusteigen. Was soll ich sagen? Sie kennt den Weg, ich bin praktisch auf sie angewiesen. Außerdem kann es ja nicht schaden, bei dem ein oder anderen hier einen Stein im Brett zu haben.

Sie klatscht vor Freude in die Hände und klettert schnell auf den Fahrersitz.

»Ich bin übrigens Brianna«, erklärt sie, ohne den Blick vom Innenleben meines Autos zu nehmen und das Lenkrad bewundernd zu betasten.

»Dan Portman«, stelle ich mich vor.

»Dann schnall dich mal an, Dr. Portman«, lacht sie und fährt mit quietschenden Reifen vom Parkplatz.

Keine zehn Minuten später bremsen wir vor einem rot geklinkerten Haus, an dem ein weißes Schild hängt.

Dr. Peter Edwards
Allgemeinmediziner

Dr. Daniel Portman
Allgemeinmediziner

Sprechzeiten:
Mo-Di, Do 8:00-12:00 15:00-18:00
Mi, Fr 8:00-12:00
Sa Nach Vereinbarung

Mit offenem Mund starre ich auf die Buchstaben. Da steht mein Name. Mein Name mit einem ‚Dr.' davor. Stolz erfüllt mich und ich muss ein wenig grinsen.

»Er freut sich unglaublich auf dich«, sagt Brianna neben mir und ich schaue sie erschrocken an.

»Was?«, frage ich und reiße meine Augen auf.

»Eddie kommt jeden Mittwoch ins ‚Bellissima', bevor er seine Hausbesuche startet. Und er hat seit deinem Vorstellungsgespräch nur davon erzählt, was für ein freundlicher, kompetenter, junger Mann du bist und was für eine Bereicherung du sein wirst«, plappert sie fröhlich weiter.

Small Town Doc [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt