3. Neue Nachbarn

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Nachdem ich meine Sachen in die Schränke im Schlafzimmer geräumt und das Bett bezogen habe, beschließe ich, dass es wohl eine gute Idee wäre, erst einmal einkaufen zu gehen. Gerade, als ich meine Jacke anziehe, klingelt es an meiner Tür.

Nanu? Wer sollte mich denn jetzt schon besuchen?

Verwirrt öffne ich sie und sehe ein junges Pärchen auf meiner Veranda stehen.

»Hi«, begrüßen sie mich freundlich. »Herzlich willkommen in Oak Hills.« Die blonde Frau reicht mir einen Korb, in dem sich ein paar kleine Topfpflanzen und offenbar selbstgebackene Muffins befinden. »Ein kleines Willkommensgeschenk, zum Verschönern Ihrer Veranda«, verkündet sie und präsentiert mir den Inhalt.

»Karen macht auch einfach die besten Apfelmuffins, darum haben wir Ihnen auch davon noch welche dazugetan«, strahlt mich der Mann an. »Ich bin übrigens Kyle. Wir sind die Bakers und ab sofort Ihre neuen Nachbarn.« Damit zeigen beide zu dem Haus, welches sich meinem direkt gegenüber befindet.

Mit großen Augen sehe ich zwischen beiden hin und her, denn bis heute hatte ich diese Art Menschen für ein Gerücht gehalten. Ich dachte, Nachbarn, die Neuankömmlinge mit Selbstgebackenem willkommen heißen und zusammenpassende Poloshirts tragen – ja, beide tragen eines in Hellblau – wären eine schlechte Erfindung Hollywoods.

»Wow, danke«, sage ich mit einem erzwungenen Lächeln. »Ich bin Dan Portman.«

»Das wissen wir doch schon«, erklärt sie und ihre Mundwinkel heben sich. »Haben Sie sich schon gut eingelebt?«

»Nun, ich bin vorhin erst angekommen und wollte mich gerade auf die Suche nach einem Supermarkt machen«, gebe ich zu.

»Es gibt einen kleinen Kaufmannsladen in der Melody Lane und ansonsten ist der nächste Größere in Fairfax. Da fährt man etwa zwanzig Minuten hin«, lässt der Mann mich wissen.

»Oh, na ja ich sollte wohl erst einmal in den Größeren«, antworte ich und ziehe meinen langen Einkaufszettel hervor.

»Ja, das macht Sinn, wenn man alles neu braucht. Wenn Sie mögen, können Sie gern heute Abend zum Scrabble bei uns vorbeikommen. Wir machen einmal im Monat einen Spieleabend und heute ist Scrabble dran«, plappert Karen fröhlich weiter.

Kyle verzieht gequält sein Gesicht . »Das war Karens Wahl. Letzten Monat beim Trivial Pursuit hat sie sich etwas blamiert und darum durfte sie dieses Mal entscheiden, was wir spielen.«

Karen betrachtet ihn durch zu Schlitzen geformte Augen und knufft ihn etwas zu herzhaft in die Seite. »Niemanden interessiert, wer der 27. Präsident war, Kyle«, meckert sie und lächelt mich dann wieder breit an. »Wir starten um sieben, Sie müssen auch nichts mitbringen.«

»Ich überlege es mir, okay?«, sage ich kompromissbereit. »Ehrlich gesagt bin ich etwas müde von den fünf Stunden Autofahrt aus New York, aber wenn ich nicht schon vorher einschlafe, schaue ich vielleicht noch einmal vorbei.«

»Ansonsten können Sie samstags auch zu meiner Pokerrunde kommen«, bietet Kyle an. »Da gibt es auch kein Gezicke.«

Wieder erntet er einen wütenden Blick von Karen, als sie in zuckersüßem Ton fortfährt. »Vielleicht lassen wir den armen Doktor erst einmal ankommen, Kyle.« Sie packt ihn wirsch am Arm, lächelt mir entschuldigend zu und zieht ihn mit sich, während ich ihnen verwirrt hinterherblicke.

»Hey, ist das ein Aston Martin?«, ruft er überrascht, als sie ihn meine Einfahrt entlangzerrt, doch Karen bleibt nicht stehen, sodass er unbeholfen hinter ihr her stolpert.

Ich schüttle schmunzelnd den Kopf und stelle den Korb auf der Veranda ab, ehe ich die Tür hinter mir zuziehe und zu meinem Auto gehe.

Etwa zwei Stunden später – ich habe meine Adresse glücklicherweise als Erstes in mein Navigationsgerät eingespeichert – komme ich mit beladenen Einkaufstaschen zurück. Natürlich habe ich mich auch auf dem Weg zum Supermarkt zweimal verfahren, dafür aber schöne Gegenden gesehen.

Ich packe alles aus, verräume die Lebensmittel und schiebe mir ganz unspektakulär eine Tiefkühlpizza in den Ofen. Während ich darauf warte, dass die Pizza fertig wird, rufe ich meine Schwester Annabelle in New York an.

»Na, Brüderchen? Bist du schon in Kuhscheiße getreten?«, begrüßt sie mich fröhlich.

»Ha ha, ich muss dich enttäuschen, ich habe noch nicht eine Kuh gesehen.« Sie kann es zwar nicht sehen, aber ich schaue ernsthaft aus dem Fenster. Keine Kuh in Sicht.

»Was? Welch eine Desillusion«, schmollt sie. »Warum zieht man aufs Land, wenn es da keine Kühe gibt?«

Ich verdrehe die Augen. »Zum Glück bin ich nicht nur wegen der Kühe hier, sondern weil es auch noch unglaublich ruhig ist und man atmen kann, ohne eine Staublunge zu bekommen. Und seit wann redest du wie Vater? Desillusion? Dein Ernst?«

Annie lacht ins Telefon. »Es passte einfach zu gut. Und ruhig? Langweilig nenne ich das.«

»Weißt du, wann ich die letzte Sirene gehört habe? Heute Morgen als ich in New York losgefahren bin, Annie.« Entspannt lasse ich mich auf mein Sofa fallen.

»Unglaublich, ich würde vor Langeweile ins Koma fallen.« Habe ich sie gerade gähnen gehört?

»Ich glaube, es würde dir gefallen. Es ist wirklich süß.« Ich lasse meinen Blick durch mein kleines, aber gemütliches Wohnzimmer schweifen.

»Aber wirst du dort nicht noch einsamer sein, Dan?«, fragt sie mich besorgt.

Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen. »Wieso meinst du, ich bin einsam?«

»Na ja, du hast in einer großen Stadt wie New York schon niemanden gefunden. Aber dort ist die Dichte an potentiellen Dates doch bestimmt gleich Null.«

Ich atme einmal tief ein und aus. »Erstens bin ich nicht deshalb hier, zweitens geht es dich gar nichts an und drittens hast du selbst auch niemanden, Annabelle«, rechtfertige ich mich.

»Ich habe wenigstens Dates!«, empört sie sich und schnaubt in den Hörer.

»Aber was für welche! Da bin ich lieber allein.«

Annie schnappt hörbar nach Luft, weil ich auf ihre zahlreichen Fehlgriffe bei Tinder & Co. hinweise. Und gerade fehlt sie mir sehr. Ich liebe meine Schwester und wir hatten schon immer ein sehr inniges Verhältnis. Sie ist meine engste Vertraute und beste Freundin und ich weiß, dass sie sich nur um mich sorgt. Sie hat nur eine etwas eigene Art, ihre Sorge auszudrücken.

»Ich bin nicht einsam, Annie«, erkläre ich sanft.

»Aber wenn ... sagst du es mir?« Ihre Stimme ist piepsig und leise und ich sehe sie wieder wie früher vor mir, wenn sie mich mit ihren großen, blauen Augen angeschaut hat und irgendetwas von mir wollte.

Ich reibe mir müde über meine Augen und seufze. »Natürlich. Wann kommst du mich besuchen?«

»Du bist doch heute früh erst gefahren.«

»Fehle ich dir etwa nicht?« Ich versuche, vorwurfsvoll zu klingen, muss aber unwillkürlich grinsen.

»Doch, sehr. Vielleicht in zwei Wochen?«

»Das wäre toll, Schwesterherz. Ich denke, es würde dir gefallen.«

»Aber nur, wenn du mir bis dahin eine Kuh gefunden hast.« Was hat sie nur plötzlich mit diesen Kühen?

Als wir aufgelegt haben, hole meine Pizza aus dem Ofen. Ganz unzeremoniell esse ich sie auf dem Sofa, während ich nebenbei eine Dokumentation über Trucker auf meinem Tablet schaue. Zum Glück hat Dr. Edwards' Tochter für eine stabile WLAN-Verbindung gesorgt.

Anschließend spüle ich meinen Teller ab und schaue nach draußen. Inzwischen ist es dunkel, also lösche ich das Licht und trete hinaus in die kühle Sommernacht. Kurz fällt mir ein, dass ich ja zum Scrabble bei den Bakers eingeladen war, doch sie werden es mir hoffentlich nachsehen, dass ich mich gegen einen Besuch entschieden habe. Ich sehe nach oben und traue meinen Augen kaum. In meinem ganzen Leben habe ich noch nicht so viele Sterne auf einmal gesehen.

Staunend gehe ich auf den Rasen und bekomme fast einen steifen Nacken, so fasziniert starre ich nach oben. Schließlich lege ich mich einfach auf das kühle Gras, verschränke die Arme hinter meinem Kopf und genieße den Anblick dieser atemberaubenden Schönheit.

Small Town Doc [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt