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„Du bist zu spät!“, informiere ich Tom und grinse ihn dann an. „Ja ich weiß!“, mault er zurück und ich ziehe eine Augenbraue nach oben. „Ach weißt du, jeder hat sich heute über irgendetwas beschwert und dann hat mich mein Chef eben zurecht gewiesen. Ich will einfach nur noch nach Hause!“, jammert der Kommissar und setzt sich neben mich. „Ich kann gehen, wenn du willst. Dann treffen wir uns halt morgen“, schlage ich vor, aber er lehnt dankend ab. „So Spencer, dann rede mal weiter“, fordert mich  Tom auf und ich nicke. „Ich war bestimmt monatelang in dieser beknackten Hütte eingesperrt, in der so wenig Platz war, das ich mich nicht einmal komplett ausstrecken konnte, wenn ich lag und ich war noch nie sonderlich groß. Der Tagesablauf war immer der Selbe. Steven kam vorbei, meistens schlug er mich, er fesselte meine Arme und Beine und zog die Seile so eng, dass sich das Blut staute, er gab mir alle drei Tage etwas Wasser, nur einen Becher und zu Essen bekam ich nur einmal die Woche. Die Zeit zog dahin und schon bald hatte ich die Kontrolle über Tag und Nacht verloren, denn an einigen Tagen kam Steven nicht vorbei und wenn er kam, dann in unregelmäßigen Abständen, was die Uhrzeit betraf. Es machte mich wahnsinnig. Am schlimmsten war es, nachdem er die ganze Hütte noch einmal extra zugebaut hat. Vor jede noch so kleine Ritze im Holz hämmerte er eine weitere Platte, sodass es stockfinster dort drinnen wurde. Am Anfang führte ich viele Selbstgespräche, um nicht durchzudrehen, doch irgendwann hatte dieser Mistkerl Steven mir den Mund zugeklebt mit einem großzügigen Stück Panzerband. Die erste Zeit danach weinte ich durchgängig, bis ich nicht mehr konnte, dann weinte ich nicht mehr. Gar nicht mehr. Jedenfalls nicht bis vor dem Tag, als man mich gerettet hatte“, sage ich still und schiele zu Tom hinüber, welcher wieder eifrig in seinem Notizbuch kritzelt. „Die Polizisten und die Psychologin meinten doch aber, du wolltest gar nicht mit ihnen mit, als sie dich fanden“, bemerkt der Kommissar und ich ziehe reflexartig einen Mundwinkel nach oben. „Stimmt. Ich habe ja auch nicht vor Freude geweint. Ich wollte nicht weg“, flüstere ich und Tom sieht abschätzend an mir herunter und dann wieder rauf. „Wieso?“, fragt er schlicht und ich zucke mit den Achseln. „Ich war verliebt“, erwidere ich und spüre, wie mir Tränen in die Augen steigen und ich wende mein Gesicht schnell ab, bevor Tom es sehen kann. „Verliebt? Doch wohl nicht etwa in Isaac?“, platzt es aus diesem hervor und ich drehe mich panisch zu ihm um und schreie gehetzt: „Um Himmels Willen! Natürlich nicht! Wie krank wäre das denn?“ Tom lacht kurz auf und stoppt dann abrupt. Man kann deutlich sehen, wie angestrengt er gerade nachdenkt, dann sieht er mir direkt in die Augen und sein Blick ist so fesselnd, dass ich unfähig bin, wegzusehen, auch, wenn ich das gerade am liebsten machen würde. „Nicht kranker, als sich in einen anderen der Verbrecher zu verlieben. War es James? Ist er zurückgekommen?“, hakt der Kommissar nach und hält gespannt seinen Kugelschreiber parat. „James? Nein, ist er nicht und ich habe mich auch nicht in ihn verliebt. Nein. Ich verliebte mich in den Mann, der euch noch fehlt, Tom. Verstehst du, weshalb ich euch nicht sagen kann, wer er ist?“ Verzweiflung überkommt mich und die ersten Tränen bahnen sich einen Weg über meine geröteten Wangen. Überraschenderweise legt Tom sein Buch und seinen Stift weg, um mich zu umarmen. Behutsam tätschelt er mir den Rücken. „Ich kann es nicht verstehen, Spencer. So sehr ich auch wollte. Du musst mir verraten, wie er heißt! Es ist das Beste für alle, vertrau mir“, haucht mir der Kommissar ins Ohr und ich ziehe mich augenblicklich zurück und drücke ihn von mir. Bestürzt starre ich ihn an. „Spencer“, wispert er, doch ich habe keine Ahnung, was er damit bezwecken möchte; energisch schüttle ich meinen Kopf und es lösen sich einige Locken aus meinem Pferdeschwanz. „Ich verstehe einfach nicht, wie du dich in jemanden verlieben kannst, der dir so etwas angetan hat!“, brummt Tom und deutet auf die unzähligen Narben, welche sich dünn und hell über meine Unterarme ziehen. Schnell greife ich nach der dunklen Strickjacke, die ich mir um die Taille gebunden hab und streife sie über. „Das nennt sich Stockholm Syndrom. Ich habe ein paar Krankenschwestern darüber reden hören. Sie haben vermutet, dass ich sowas erlitten habe und ich deshalb nicht weg wollte. „So ein armes Mädchen. Dabei war sie doch noch so jung und dann sowas!“, sagten sie“, erkläre ich dem Mann mir gegenüber, welcher sich jetzt doch wieder sein Büchlein nimmt und sich etwas notiert. „Als ich psychisch total am Ende war und nicht einmal mehr wusste, wie ich heiße, wie alt ich bin oder was für ein Jahr wir überhaupt haben, öffnete sich die kleine Holztür. Es war das erste Mal seit langem. Ängstlich kauerte ich in einer Ecke, getränkt in meinem eigenen Urin, halb verhungert. Das war also der erste Lichtblick seit Langem und zwar wortwörtlich. Doch der Mann der dort vor mir kniete, war mir unbekannt. Kantiges, fast weißes Gesicht umgeben von schwarzen, schulterlangen Wellen. Ozeanblaue Augen, die direkt in meine sahen, waren umrandet von lang geschwungenen, dunklen Wimpern, welche fast die hoch sitzenden Wangenknochen streiften. Die rosa Lippen zu einem Strich verzogen und rechts und links jeweils ein Grübchen auf der Wange. Er sah aus, wie eine Elfe. Eine wunderschöne Elfe mit kräftiger, ruhiger Ausstrahlung. Er war perfekt. „Geht es dir gut, Addison?“, fragte er mich mit melodischer Stimme. Ich warf ihm einen entschuldigenden Blick zu und legte den Kopf schief. Sofort kam er vorsichtig näher gerückt und ich ließ es zu. Mit einer schnellen Handbewegung riss er mir das Panzerband vom Mund und ich keuchte auf. „A-Addison?“, krächzte ich irgendwann und er sah mich lächelnd an. „Steven meinte zu mir, du hießest Addison. Ich finde den Namen schön“, erklärte mir der Mann und lockerte währenddessen meine Fesseln. Dankbar seufzte ich. „Ja kann schon sein“, murmelte ich bloß. Schon eine Weile hatte ich nicht mehr geredet und es viel mir deutlich schwer. Erschöpft legte ich mich hin und schlief augenblicklich ein“, erzähle ich und werde von Tom unterbrochen, welcher seinen Kugelschreiber gegen meinen Arm stupst. „Was ist denn?“, stöhne ich etwas genervt. „Addison? Der Typ hat dir nicht ernsthaft weiß gemacht, dass du Addison heißt? Ich meine - warum?“, will er wissen und ich denke nach. Um ehrlich zu sein, weiß ich es selbst nicht genau. „Wahrscheinlich, um mehr Kontrolle über mich zu haben. Wenn ich meinen Namen gehört hätte, hätte ich mich vielleicht an mehr aus meiner Vergangenheit erinnern können, aber das war ja nicht der Fall“, überlege ich laut und Tom nickt, als wüsste er genau, was ich meine. „Und dieser Elfenjunge ist der vierte, den wir suchen?“, fragt er fast nebenbei, doch als ich bemerke, dass er die Fotos aller Verdächtigen durchwühlt, werde ich ganz hibbelig und versuche abzulenken: „Warum eigentlich vier? James hat doch so zu sagen gar nichts mit mir zu tun! Er hat sich doch gleich aus dem Staub gemacht, nachdem er das erfahren hat!“ – „Eben. Er wusste es und hat nichts gemeldet, das ist fast dasselbe, als hätte er selbst mit drin gesteckt, außerdem suchen wir ihn auch schon wegen anderer Dinge“, nuschelt Tom , steht plötzlich auf und verschwindet aus dem Raum ohne eine Erklärung abzuliefern. Verwirrt bleibe ich sitzen und warte, bis der Kommissar zurückkommt. „Komisch. Eines von den Bildern fehlt!“, sagt er nachdenklich und ich schlucke laut. „Ach ja?“, gebe ich schüchtern zurück und er nickt, während er sich mal wieder durch die Haare rauft. „Hm, ich glaube schon. Ich war mir jedenfalls sicher, dass wir dreizehn Verdächtige hatten, hier sind aber nur zehn Fotos. Drei hat Catherin, meine Kollegin, ja schon von dir bekommen, also fehlt eins. Aber vielleicht irre ich mich ja auch“, erwidert Tom achselzuckend und setzt sich wieder zu mir auf den kalten Boden. „Möglich!“, piepse ich hastig und fahre mit meiner Geschichte fort, bevor wir noch weiter über die Bilder reden: „Der Mann kam dann also jeden Tag vorbei und sah nach mir. Wir redeten, er brachte mir Essen und Trinken, lockerte meine Fesseln, bis er sie irgendwann vollständig entfernte und er erzählte von sich und verglich dies mit meinem Leben. Jedenfalls mit dem Leben, was sich Isaac für mich ausgedacht hatte. Denn anders, als ich dachte, war der freundliche Kerl, welcher wir half, auf Isaacs Seite. Er hatte geplant, dass ich mich in seinen Gehilfen verliebe, damit ich länger bleiben würde, denn umso mehr Geld könnte er dabei heraus schlagen! So ein abgekartetes Spiel! Aber es hatte funktioniert. Dieser Typ – nennen wir ihn einfach mal Tobias – freundete sich schnell mit mir an und schlussendlich erlaubte er mir sogar, aus der viel zu kleinen Hütte heraus zu kommen. Er stützte mich bei meinen ersten Schritten und war fortan immer an meiner Seite, er war immer für mich da, er-“, setze ich an, doch ich kann einfach nicht weiter reden. Ich schluchze mehrmals laut auf und wische mir ununterbrochen Tränen vom Gesicht. Auf meinem gesamten Körper bildet sich eine Gänsehaut und ich zittere. „Was hat er getan, Spencer?“, hakt Tom leise nach. „Er hat mich geküsst und er hat mit mir geschlafen!“, schniefe ich und falle dem Kommissar dann in die Arme. Bitterlich weine ich mich aus. „Was ist dann passiert?“, fragt der Mann neben mir und ich atme tief ein und aus, bevor ich antworte: „Er sagte, er würde mich lieben und ich glaubte ich. Ein paar Tage später kam ihnen die Polizei auf die Schliche. Tobias hat das wohl bemerkt, denn er ist abgehauen. Seit dem habe ich ihn auch nicht wieder gesehen. Aber ich kann ihn jetzt nicht verraten! Er war immer so gut zu mir!“, jammere ich und Tom nickt. „Wie du schon selbst gesagt hast, Spencer, er arbeitete für Isaac, das war alles nur Show“, bemerkt er. „Vielleicht hast du recht“, wispere ich und ziehe mich wieder etwas zurück, sodass er seine Aufzeichnungen beenden kann. „War das eigentlich unser letztes Treffen?“, frage ich auf einmal, als mir klar wird, dass er jetzt eigentlich alles weiß, um Isaac, Steven und möglicherweise auch James ins Gefängnis zu stecken. Der Kommissar denkt kurz darüber nach und schüttelt dann den Kopf: „Ich weiß ja immer noch nicht, wer der vierte Mann war, Kleines!“ Ich schenke ihm ein schwaches Lächeln. „Tom? Ich weiß es auch nicht. Seinen Namen hat er mir nie gesagt“, meine ich und blicke auf den Boden. „Wieso nicht?“ – „Weil ich nie danach gefragt habe“, erwidere ich, stehe langsam auf, streife mir die Jacke, welche über dem Stuhl hängt, über und wende mich wieder dem Mann zu, welcher mich jetzt schon mehr oder weniger über Wochen weg begleitet hat. „Es war schön, endlich über alles zu reden. Danke dafür. Aber vor allem, danke, dass du mir ein so guter Freund warst und danke, dass du mich aus der Psychiatrie geholt hast“, säusle ich ihm entgegen und beantworte seine Frage, ob es mir in der Wohngemeinschaft im nördlichen Stadtviertel gut gefällt, mit einem schlichten: „Ja“. Tom erhebt sich, kommt auf mich zu und nimmt mich ein letztes Mal in den Arm. „Bis dann, Spencer“, verabschiedet er sich lächelnd und ich gehe den langen, grauen Korridor zum Empfang hinunter, um dort meine Papiere, Handtasche, Schal, Mütze und Handschuhe abzuholen. Nachdem ich alles ordnungsgemäß verstaut oder angezogen habe, verlasse ich das Revier und schlendere durch die verschneite Dämmerung. Auf dem Weg zu meiner kleinen Wohnung laufe ich an einem etwas abgelegenen Park vorbei. Neben mir raschelt etwas im Busch und ich beschleunige unbewusst meine Schritte. Als hinter mir plötzlich ein Atmen zu vernehmen ist, renne ich los. Die Schritte hinter mir werden immer lauter und schneller, bis mich jemand am Handgelenk packt. Panisch schnelle ich herum und gucke der Person in die Augen. Ich gucke diesem Mann in seine ozeanblauen Augen. „Ezra!“, keuche ich verwundert und lasse mich dann von ihm lachend in die Luft heben. „Was machst du denn hier?“, frage ich ihn, doch er legt nur seinen Zeigefinger auf meine vor Kälte blau angelaufenen Lippen, um mir zu bedeuten, leise zu sein. „Sei mir nicht böse, aber ich bin dir gefolgt. Auf Schritt und Tritt. Ich wusste zu jeder Zeit, wo du bist. Gott, ich habe dich so vermisst Addison!“, sagt er still und schenkt mir ein herzerwärmendes Lächeln, doch eine Sache an diesem Satz stört mich: „Ich heiße nicht Addison, sondern Spencer. Du hast mich die ganze Zeit belogen oder etwa nicht?“, kreische ich und er presst seine große, eisige Hand auf meinen zitternden Mund. „Spencer“, flüstert er, doch ich schüttle ihn ab: „Oder etwa nicht?“ – „Nein! Hör zu: Ich habe für Isaac gearbeitet und anfangs habe ich dich wirklich nur betrogen, aber ich habe begonnen, etwas für dich zu empfinden! Du warst komplett anders, als Steven dich beschrieben hat! Du warst und bist so schlau und witzig, ehrlich, aufmerksam, interessant und so unglaublich schön! Ich liebe dich wirklich, Spencer!“, haucht Ezra und streicht mir behutsam über meine Wange. „Du warst es!“, stelle ich aufgeregt fest und umgreife seine Hand. Verwirrt sieht er mich an. „Du hast die Polizei angerufen! Du hast dafür gesorgt, dass sie mich finden!“, erkläre ich und sein Blick wird ganz weich. „Ich musste es tun! Ich wusste, dass wir nicht mehr zusammen sein könnten, aber ich wollte das Beste für dich“, meinte er und sah mir direkt in die Augen. „Aber das Beste für mich wärst doch du“, sage ich und küsse Ezra mit aller Leidenschaft, die ich aufbringen kann. Kurze Zeit später löse ich mich von ihm und während er mir einzelne Tränen aus den Augenwinkeln streicht und ich mit meinen kleinen, zierlichen Händen durch seine schwarzen Haare fahre, befehle ich ihm in strengem Tonfall: „Du musst verschwinden. Weit weg. Ganz weit weg. Sie suchen dich. Mach bitte nichts Dummes, hau einfach ab. Aber denk immer daran: Ich liebe dich“ Ich greife in meine Jackentasche, ziehe etwas hervor und drücke es Ezra in die Hand, als ich ihm einen Kuss auf die Wange gebe und dann so schnell wie möglich davon laufe. Ich weiß, dass er mir nicht folgen wird, also bleibe ich hinter einer Hausecke stehen und verschnaufe kurz, bevor ich mich noch einmal umdrehe und die Liebe meines Lebens betrachte, wie sie ein Bild von sich selbst betrachtet. Es ist genau das, welches Kommissar Davids – Tom – heute Nachmittag gesucht hat. Das Foto vom Verdächtigten - Nummer Vier.

Stockholm SyndromWo Geschichten leben. Entdecke jetzt