Es ist dunkel. Habe ich meine Augen überhaupt aufgemacht? Anscheinend.
Eigentlich bin ich viel zu müde um wach zu sein. Aus irgendeinem unbegreiflichen Grund bin ich es aber. Was solls? denke ich mir und rolle mich auf den Bauch. Nach meinem Handy tastend werfe ich einen Blick aus dem Fenster. Das Mosaik aus Dächern und Fassaden wird durch den Mond aber vor allem durch die Straßenlaternen angeleuchtet. Ich werde neidisch bei dem Anblick der dunklen Fenster. All diese Menschen schlafen mehr oder weniger ruhig. Aber immerhin schlafen sie. Dann erscheint mitten in der grauen Landschaft ein gelber Fleck. Jemand hat sein Licht eingeschaltet. Wahrscheinlich jemand, der die Frühschicht erwischt hat. Der Blick auf die Uhr verrät mir, dass es erst halb 4 ist. Warum soll man sonst um diese Zeit wach sein?
Ich setze mich auf, wickele mich in meine Decke und beobachte das fremde Zimmer. Durch die helle Beleuchtung gewährt es mir Einblick in die Welt eines anderen Menschen. Ich warte, dass etwas passiert. Bis jetzt sehe ich nur einen Schrank, der gegenüber dem Fenster an der Wand steht.
Das soll auch einige Minuten so bleiben. Ich blicke stumm zu dem Fenster ohne dass die fehlende Änderung Ungeduld oder etwas in der Art in mir hervor ruft. Die Situation hält mich irgendwie fest. Vielleicht weil sonst nichts passiert, vielleicht ist sie aber auch etwas Besonderes.
Da! Es passiert etwas. Erst kommt nur ein Schatten in mein Blickfeld. Jemand schlüpft in einen Hoodie. Für jemanden der regelmäßig Frühschicht arbeitet ist meine Person hier sehr langsam. Ich verwerfe meine Hypothese und halte die Augen offen um neue Anhaltspunkte zu finden. Würde man immer so früh aufstehen, wäre dieser Ablauf routinierter.
Welche Gründe gibt es um halb 4 wach zu sein? Gut, dass gerade ich das frage. Ich weiß es ja auch nicht, aber ich bin nur wach und sehe aus dem Fenster. Meine Person war aufgestanden, hatte das Licht angemacht und zieht sich gerade an. Warum? In diesem Moment tappt ein äußerst zerzauster Kerl in vorhin besagtem Hoodie am Fenster vorbei.
Vielleicht fährt er ja in den Urlaub. Die Straßen sind um diese Zeit leer und somit wäre es sehr angenehm irgendwo hin zu fahren. Oder er hatte einen ganz frühen Flug gebucht in irgendein exotisches Land. Aber eigentlich ist gar nicht die typische Zeit für Urlaub. Alle Jugendlichen haben Schule und hier lässt es sich momentan auch ganz gut aushalten.
Wenn man aber nicht an die Schulferien gebunden ist, kann man jetzt erheblich billiger reisen. Ist er denn schon alt genug um die Schule beendet zu haben? Auf diese Entfernung ist das wirklich schwierig zu schätzen. Und da in dieser Welt fast alles möglich ist, könnte er auch ein Wunderkind sein und die Schule schon mit 16 abgeschlossen haben.
Es rührt sich wieder etwas. Aber was passiert da drüben ? Der Typ läuft die Hände vor dem Mund gefaltet hin und her. Dreimal. Er scheint verzweifelt zu sein. Was ist schief gegangen, dass es ihn mitten in der Nacht aufweckt oder zumindest wach hält ?
Vielleicht ist er doch kein Wunderkind, sondern ein ganz normaler Schüler. Morgen beziehungsweise heute in der Früh steht eine wichtige Prüfung an. Es mangelt ihm an Vorbereitung und jetzt bekommt er Panik. So früh aufzustehen ist vielleicht auch der Versuch noch etwas zu lernen. Hm. So richtig zufrieden bin ich mit dieser Hypothese nicht. Aber mein Gegenüber macht es mir auch nicht leicht. Es gibt nur wenige Informationen durch sein Handeln preis. Wahrscheinlich liegt es einfach daran, dass ich nur so einen kleinen Ausschnitt des Raumes sehen kann und in diesem Zimmer gar nichts Besonderes stattfindet. Er ist einfach nur ein Junge, der wie ich von Schlaflosigkeit geplagt wird. Es kann wohl auch so einfach sein.
Gerade will ich meine Beobachtung mit dieser Lösung beenden, als etwas Interessantes passiert. Vor dem Fenster durch das ich die Szene betrachte scheint ein Tisch zu stehen. Darauf hat er einen großen Rucksack gestellt. Also doch in die Schule? Niemals. Er könnte mit dem Inhalt diese Rucksacks drei Tage in der Schule wohnen. Wo will er hin? Auch die Urlaubsidee kommt wieder auf und wird schnell wieder verworfen. Wenn man vereist, packt man vorher alles Nötige ein. Man tappt nicht verschlafen und hektisch zugleich durch das Zimmer irgendwelche Sachen zusammensuchend. Aber das passiert da drüben eben. Was tut er oder noch wichtiger was will er tun?
Er kommt immer wieder in mein Blickfeld und verschwindet wieder. Für mich nicht erkennbare Dinge werden in den Rucksack gepackt. Er zieht irgendetwas wieder heraus, legt es weg und rauft sich die Haare. Was ist da los? Mir fallen keine neuen Hypothesen mehr ein. Ich sitze nur noch da und starre aus meinen Fenster auf das seine. Das Geschehen scheint mich immer näher heran zu ziehen.
Er packt den zuvor weggelegten Gegenstand wieder ein und wischt sich über das Gesicht als würden ihm Tränen über die Wangen laufen. Schmerz und Mitgefühl machen sich in mir breit. Er dreht sich zu seinem Schrank um, pflückt Klamotten heraus, um sie ebenfalls in den Rucksack zu legen. Den Hoodie behält er an, wechselt in eine Jeans, schlüpft in ein paar Sneakers und schlüpft in eine Jacke. Den Versuch seine Haare zu bändigen bricht er ab indem er einfach eine Mütze aufsetzt. Er will weg definitiv. Wo soll es hingehen?
Es dauert einen Moment bis mein Kopf realisiert was er tut. Er steigt auf seinen Schreibtisch, öffnet das Fenster, klettert raus auf die Fensterbank. So gut wie möglich zieht er das Fenster zu und steigt dann hinauf aufs Dach. In kniender Haltung verharrt er einen Moment. Jetzt kann ich nur noch seine Silhouette erkennen. Einen Wimpernschlag später ist er auf ewig aus meinem Blickfeld verschwunden. Er flieht. Er flieht vor seiner Familie oder was ihm sonst in diesem Haus droht. Denn über den Dächern ist er frei.
So frei wie es meine Gedanken diese Nacht waren. Jetzt sind sie still. Mein Kopf weiß auch nicht was er dazu denken soll. Ich sitze da und starre auf den Punkt wo der Junge verschwunden ist. Eine einzige Frage füllt die Stille der Nacht. Was wird aus ihm werden? Keine Vermutung, keine Hypothese findet sich. Ich sitze nur da in der Stille und starre in die kalte Luft, die den Raum zwischen den Dächern und den Sternen füllt.
Mike stehst du auf? Ich schrecke hoch. Es ist halb 7. Zeit sich für die Schule fertig zu machen. Mein nächster Blick geht zu dem Fenster. Es brennt kein Licht, aber es ist zu erkennen im fahlen Licht der aufgehenden Sonne, dass das Fenster offen ist. Habe ich das alles wirklich gesehen? Ist der Junge wirklich weggelaufen? Ich setze mich auf. Ich bin in meine Decke gewickelt, genauso wie ich mich ans Fenster gesetzt habe. Ich verweile noch einen Moment und versuche die Bilder der Nacht zu verstehen. Dann werfe ich noch einem Blick hinaus, bevor ich aufstehe.
Schließlich wartet mein Alltag wieder auf mich.
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Über den Dächern
Short StoryEine kurz Geschichte und ein Gedicht über die Magie und die Schrecken der Welt über den Dächern.