Kapitel 1

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Prolog

Kerzengerade saß der Mann auf dem scharlachroten Sessel.

Sein Aussehen sprach von Macht und seine Kleidung, Gewänder aus Seide und Gold von Reichtum, doch man konnte nicht erkennen, wie alt er war.

Keine einzige Falte zierte sein Gesicht und doch erzählten die grauen Augen von seinem Alter.

Keiner seiner Diener hatte es je gewagt nach seinem Alter zu fragen.
Sie wussten, was er dann mit ihnen machen würde.

Foltern.
Verbrennen.
Sie zum Selbstmord treiben.

Er herrschte über sie und das wussten dort alle ganz genau.

Plötzlich durchbrach ein lautes Gepolter die unangenehme Stille und in Sekundeschnelle hatten sich seine jungen Diener schützend vor dem prachtvollen Sessel positioniert.

Und doch war der Anblick des Ganzen schier verrückt. Nur ein paar Meter weiter sammelten sich nämlich zertretene Müllsäcke und zerquetschte Energy Drink Dosen.

Es passte nicht ganz zu der ganzen Erscheinung des Mannes auf dem Sessel und seinen Dienern.

Polternde Schritte näherten sich, die schlagartig verstummten, als der Eindringling in das Gewölbe trat.

"Wer erlaubt es sich, mich in meiner Ruhezeit zu stören?" Der Mann auf dem Thron schnalzte mit der Zunge, ehe er mit seiner Reptiliensaften Stimme fortfuhr.

"Ich hoffe doch nicht, dass dieser unerhörte Besuch vollkommen grundlos ist, nicht wahr?"

Wieder diese unschuldige, samtige Stimme, die einem die Gänsehaut auf die Arme trieb.

Doch als der verängstigte Mann endlich mit zitternder Stimme anfing zu sprechen, merkte sogar sein Gebieter, dass in diesem Moment nicht der richtige Zeitpunkt zum Spaßen war.

"Es", der Dienerstockte kurz, "es ist fehlgeschlagen. Wir haben einen Fehler gemacht. Sie ist weg."

◆◆◆

[Denn Hoffnung ist wahrlich ein Geschenk, das nicht jedem gemacht wird]

Immer noch hallten Bruchstücke der schwer begreiflichen Wörter meines Psychologen in meinem Kopf wieder.

"Autounfall..."

"...wird wahrscheinlich noch eine Weile brauchen..."

"...wissen auch nicht... "

"Vielleicht schlimmes Trauma..."

Immer schneller zischten die sich wiederholenden Satzfetzten durch meinen Kopf und mein Magen fühlte sich an, als hätte man ihn kaltblütig wie einen Eimer Wasser umgekippt.

Aufkeuchend schlang ich mir beide Arme um meinen schmerzenden Magen und krümmte mich leicht würgend.

Es war alles zu viel.

Der Autounfall.
Die Psychologen, die Ärzte, die keine Ahnung hatten.
Meine Mutter.

Ich konnte nicht mehr, war innerlich leer, ausgesaugt.

Bilder, die ich nicht ganz zuordnen konnte, tauchten plötzlich vor meinen flatternden Augenliedern auf und nahmen mir schließlich auch den letzten Rest meiner nur noch wenig vorhandenen Sicht.

Kaltes Weiß umfing mich in meinem Kopf.
So weiß und rein, dass es fast schon wehtat.

Ich meinte eine Gestalt mit blütenweißem, flatterndem Gewand um die Schultern kurz zwischen den flimmernden Abbildungen sehen zu können, genau wie auch eine stark vergrößerte Lilie, die ihre kräftigen, rosanen, ineinander verschlungenen Blütenblätter so in meine Richtung streckte, als würde sie mich gleich verschlingen wollen.

SeelenscherbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt