Ich (mit dir)

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Wahrscheinlich sollte ich gerade auf irgendeiner Wiese herumrennen, in den Himmel starren und über die Vergänglichkeit unseres Seins philosophieren. Oder mich auf die Suche nach irgendwelchen Leuten machen, die ich zumindest flüchtig kannte und mich ihnen anschließen. Oder alte Fotos ansehen und alles Revue passieren lassen. Oder beten.

Keine Ahnung. Falls es einen Ratgeber für wie verhalte ich mich angemessen, wenn die Welt untergeht gibt, so habe ich ihn leider nicht gelesen.

Irgendwie muss ich an die verschiedenen Phasen der Trauer oder so denken, die ich vor fünfmillionen Jahren mal in der Schule lernen musste. Wie ist das nochmal? Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern – und ich kann es nicht nachschlagen, weil das scheiß Teil namens Handy ohne Internet so nutzlos war wie ein Steinbrocken – aber ich habe noch eine grobe Vorstellung davon.

Ist das jetzt Verleugnung? Oder habe ich alle Schritte übersprungen und mich kopfüber in die Depression gestürzt? Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich irgendwann zwischendurch was zerstört haben müsste.

Und wenn ich es einfach ignoriere? Wenn ich einfach so weiter mache, wie sonst, so tue als wäre heute irgendein Feiertag und deswegen sind meine Vorlesungen ausgefallen und ich muss die Wohnung nicht verlasse, wenn ich stattdessen endlich an meiner Hausarbeit weiter schreibe und mir einrede, dass die Telekom mal wieder eine Störung im Netz hat und meine Mitbewohnerin spontan beschlossen hat ein bisschen länger bei ihrer Familie zu bleiben, vielleicht wäre das einfacher.

Einfacher als zu begreifen, dass wir alle ausnahmslos verrecken werden.

Fuck.

Und was ist, wenn ich mir das alles nur eingebildet habe? Wenn ich verrückt werde?

Eigentlich weiß ich, dass das nicht möglich ist. Dass ich genug Nachrichten bekommen habe, die Beweis genug sind, dass das Telefonat mit meinen Eltern echt gewesen ist.

Trotzdem springe ich plötzlich förmlich aus dem Bett und laufe zur Wohnungstür. Meine Hände zittern so sehr, dass ich mehrere Anläufe brauche, um die Tür aufzuschließen und ins Treppenhaus stürzen zu können.

Ich versuche nach irgendwelchen Geräuschen zu lauschen, aber ich kann nur das Blut in meinem Kopf rauschen hören. Also fange ich an die Treppe herunter zu rennen, immer zwei Stufen gleichzeitig nehmend. Ich weiß noch nicht mal, was eigentlich mein Plan ist. Die nächste Person, die ich treffe, an den Schultern zu packen und zu fragen, ob tatsächlich die Welt untergeht?

Ein paar Meter vor dem Haupteingang komme ich schlitternd wieder zum stehen. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass ich in einer Black Mirror Folge gelandet bin und das ganze einfach nur eine kranke Simulation ist? Und wenn ich jetzt nach draußen gehe fangen Menschen an auf mich zu schießen oder so?

Ich atme tief ein. Okay, das war Unsinn.

Doch bevor ich die Chance habe mich zu entscheiden, was ich jetzt mache, wird die Tür von außen geöffnet und du trittst herein.

Und du richtest auch kein Gewehr auf mich, sondern blickst auf ein paar Briefumschläge in deiner Hand.

Zugegeben, ich brauche einen Moment um dich überhaupt zuordnen zu können, aber dann fängt mein Gehirn hilfsbereit an mir willkürliche Informationen zuzuwerfen.

Ich wusste, dass du schon im Wohnblock gelebt hast, bevor ich eingezogen bin, aber du warst nie mehr als flüchtige Begrüßung, wenn wir uns überhaupt mal trafen.

Doch nun stehst du hier und hast offensichtlich gerade die Post aus deinem Briefkasten geholt.

Es ist so alltäglich und normal, dass ich mich zusammenreißen muss, nicht laut loszulachen.

Bis zum Ende der WeltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt