Du (ohne mich)

133 33 3
                                    

»Stell dir vor, jemand hat gerade Krebs oder sowas besiegt. Und dann geht die Welt unter. Ich würde mich so verarscht fühlen.«

Du murmelst eine Zustimmung, lässt dabei deine Fingerspitzen weiterhin über meinen Nacken und die Ränder meines Oberteiles tanzen.

»Vielleicht weint jemand aber auch vor Erleichterung«, wirfst du nach einigen Sekunden ein, »weil er keine Angst mehr haben muss, vor seinen Geliebten zu sterben.«

Ich lehne mich in deine sanften Berührungen hinein. Mittlerweile war der früher Nachmittag angebrochen, während wir gemeinsam auf dem Sofa lagen, als hätten wir nie etwas anderes gemacht.

»Und was ist mit all den Eltern, die ein Kind erwarten und es nie sehen werden?«, fordere ich dich hinaus.

»Was ist mit all den Kindern, die in den Armen ihrer Eltern einschlafen werden?«, erwiderst du nur.

Ich verharre.

Ich bin schon lange kein Kind mehr.

Aber immer ihr Kind.

Du fährst mit deiner Handfläche über meine Arme, bis du mich in der Mitte umfassen und umarmen kannst.

»Sorry«, flüsterst du, deine Lippen nur ein Hauch von meinem Hinterkopf entfernt.

»Schon okay«, sage ich und denke: Fuck. Ich werde nie wieder meine Eltern sehen.

Aber genau genommen würde niemand mehr irgendwen wiedersehen. Keiner von uns würde trauern können, um keinen von uns wird getrauert werden. Wir werden alle verschwinden, endgültig, weil keiner übrig sein wird, um sich noch an uns zu erinnern.

Vielleicht hatte ich also gar kein Recht darauf, mich deswegen so elendig zu fühlen. Wir alle sind am Arsch. Gott, irgendwo versuchte wahrscheinlich ein Vater seinem Kind vorzugaukeln, dass alles in Ordnung sei. Ich hingegen verbringe den letzten Tag meines Lebens damit, mich Hals über Kopf auf dich zu stürzen, als wäre ich noch jugendlich, geil drauf und hätte den dramatischen Wunsch nicht ohne die wahre Liebe zu sterben.

Doch trotzdem würde ich wahrscheinlich anfangen zu weinen, wenn ich nur einen Augenblick länger darüber nachdachte.

»Hey, du hast doch erzählt, dass du tanzt? Hast du Videos, die du mir zeigen kannst?«, versuche ich das Thema mit dem ersten, das mir in den Sinn kommt, zu wechseln.

»Oh, klar«, antwortest du und greifst hinter dich nach deinem Handy. »Also, das meiste ist auf YouTube, aber ich müsste eigentlich auch ein paar in der Galerie haben«, erklärst du mir, während du den Bildschirm entsperrst. Ich versuche neugierig einen Blick auf dein Sperrbild zu erhaschen, aber deine Hand verdeckt es leider.

Also bringe mich stattdessen in eine aufrechte Position, während du ein Video heraussuchst.

»Hier.« Du reichst mir das Handy.

»Danke.« Ich nehme es und warte darauf, dass du dich auch hinsetzt, weil ich davon ausgegangen bin, dass wir es uns gemeinsam anschauen würden. Doch du bleibst liegen und dein Blick ist in irgendeinem Punkt im Raum verloren.

Also wende ich mich gespannt wieder dem Gerät in meiner Hand zu und lasse das Video abspielen.

Du hattest nicht genauer erläutert, welche Art von Tanz du ausübst, also weiß ich nicht, was ich erwarten soll.

Der Bildschirm wird kurz schwarz, lädt und dann fängt es an.

Du stehst in der Mitte eines vollen Raumes. Hinter dir befinden noch zwei andere Tänzer, aber meine Aufmerksamkeit liegt nur auf dir. Die Beine leicht auseinander, der Kopf nach oben gerichtet. Und dieses Outfit steht dir einfach so verdammt gut. Unten eng anliegend und deinen langen Beinen schmeichelnd, während es oben locker um deine Figur fällt. Während ich dir vorhin noch widersprechen wollte, kann ich plötzlich deinen Kommentar verstehen. Natürlich ist die Anmut noch immer tief in deinem Körper verwurzelt, doch hier versteckt sie sich nicht mehr, sondern fordert neckisch alle Aufmerksamkeit.

Bis zum Ende der WeltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt