sie verstehen

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Sie sagte, es würde ihr Leid tun. Aber was denn? Warum tat sie das? Wenn es ihr Leid tat, warum hat sie es denn gemacht? Warum hörte sie nicht einfach auf? Warum nahm sie immer weiter ab? Und warum musste sie sterben? Ich wollte sie verstehen.

Mama und Papa sagten auch, dass es ihnen Leid tat. Sie sagten, sie würden so etwas nicht noch mal passieren lassen.

Meine Schwester war jetzt tot. Schon seit drei Monaten. Seit dem besuchte sie mich nachts. Es war jede Nacht das Gleiche. Und jetzt war sie auch hier. Sie war neben meinem Bett, tränenerfüllt. Und ich sah sie an. Sie redete mit mir. „Es tut mir Leid", flüsterte sie. Und ich hörte es wieder und wieder. „Ich vermisse dich", sagte ich ihr, doch sie sagte nichts mehr. So ging es normalerweise jede Nacht zu.

Doch jetzt hielt ich es nicht mehr aus. „Clara?", fratge ich meine Schwester. Ich wollte sie was fragen. Ich wollte sie verstehen. „Lu", sagte sie und verschwand. „Clara", sagte ich noch mal, sie konnte doch nicht einfach verschwinden! „Wo bist du hin, Clara?", es kam keine Antwort. Neben meinem Bett war es leer. Und auch im restlichen Zimmer war kein Zeichen von meiner toten Schwester.

Es gab nur einen Ort, an dem sie sein konnte. Leise stand ich aus meinem Bett auf und verließ das Zimmer. Auf Zehenspitzen ging ich den Flur entlang zu Claras Zimmer. Das Schlafzimmer von Mama und Papa war ganz unten, sie sollten mich also nicht hören, aber ich war vorsichtshalber trotzdem ganz leise. Angekommen legte ich meine Hand auf die Türklinke und hielt inne. In diesen Raum ist seit drei Monaten niemand mehr gewesen. Ich hatte erwartet, dass es sich komisch anfühlte, die Tür zu öffnen und das Zimmer zu betreten, aber es fühlte sich fast so an wie früher. Von dem Loch in mir abgesehen, was ich nun seit drei Monaten dort hatte und ignorierte. In dem Zimmer schaute ich auf. Da war sie! Clara saß an ihrem Schreibtisch und schrieb irgendwas auf. „Clara!", rief ich leise. Meine Schwester schaute mich an, lächelte ein sehr trauriges Lächeln, und verblasste immer mehr. „Clara! Nein, bleib bei mir", sagte ich, doch da war sie schon weg. Langsam ging ich zu dem Schreibtisch, wo eben noch Clara saß. Vielleicht konnte ich hier ja lernen zu verstehen. Ich musste es probieren. Also setzte ich mich. Der Schreibtisch war etwas verstaubt. Nur eine Sache hatte kein Bisschen Staub an sich. Es war eine Art Buch. Ein Notizbuch vielleicht. Neugierig öffnete ich es.

Das Buch war voll mit Informationen über verschiedene Lebensmittel und ihre Kalorienanzahlen. Was waren überhaupt Kalorien? Es musste was Schlimmes sein, neben hohen Zahlen war ein Ausrufezeichen und da stand „Auf keinen Fall essen". Ich blätterte weiter. Hier waren Gewichtsangaben und Daten. Die Zahlen wurden immer kleiner. Beginnend bei 63kg vor einem Jahr, gingen sie runter bis 38kg. Ich erinnerte mich gut daran, wie dünn Clara zu dieser Zeit war. Auf der Seite stand „Ziel: 30". Das war doch viel zu dünn! Wieso wollte sie so dünn sein? Wollte sie etwa sterben? Ich legte das Buch zurück und griff nach einem anderen. Noch konnte ich meine Schwester nicht verstehen. „Tagebuch" stand in verschnörkelter Schrift auf diesem Buch. War es okay, dass Tagebuch meiner Schwester zu lesen? Es konnte mir bestimmt helfen zu verstehen, daher beschloss ich, dass es okay war.

„Liebes Tagebuch,

heute waren wir bei meiner Tante. Sie hat jetzt einen neuen Freund. Alle finden ihn soo toll. Weißt du, was er gesagt hat, als er mich gesehen hat? Er hat gesagt, dicke Mädchen mag er am liebsten. Ich wollte ihm sagen, dass ich doch gar nicht dick bin aber eigentlich hat er ja schon Recht... Ich sollte echt abnehmen. Der soll mich nie wieder so angucken und sowieso... Papa hat auch neulich zu Lu gesagt, sie habe eine so tolle Figur. Zu mir hat er das nie gesagt."

So toll war meine Figur doch gar nicht. Ich überblätterte einige Seiten.

„Ich bin eine Enttäuschung! Diese Woche wollte ich doch die 40 Kilo knacken aber ich hab was von Mamas Kuchen gegessen. Das muss ich unbedingt wieder wegkriegen. Wieso hab ich das nur getan?"

Ich blätterte noch etwas weiter.

„Heute in der Schule hat Justus zu mir gesagt ich sei Krank. Die Anderen haben gelacht. Ich bin doch gar nicht krank! Ich muss es ihnen beweisen. Ich muss abnehmen. Die werden sehen. Sie werden sich alle noch wundern. Eines Tages werde ich toll aussehen"

Vom Lesen musste ich weinen, aber ich hörte nicht auf, ich verstand langsam.

„Mir ist soo kalt. Ich weiß nicht, wieso, aber selbst mit allen Decken, die ich finden kann, wird es nicht wärmer. Was ist denn los?"

ich war jetzt schon fast am Ende des Tagebuchs.

„Eigentlich wollte ich Lu heute nicht anlügen. Aber sie wirkte so besorgt. Schwesterherz, ich liebe dich. Wenn ich dünn genug bin, ess ich wieder was, versprochen. Aber ich muss noch mehr abnehmen. Ich bin noch nicht gut genug. Ich werde nie so perfekt werden, wie du.", jetzt heulte ich los. „Aber du bist doch immer perfekter gewesen als ich, Clara", weinte ich.

Ich verstand meine Schwester jetzt. „Clara, ich seh dich jetzt. Ich weiß jetzt, warum du so warst, wie du warst. Ich werde deinen Kampf beenden. Ich verspreche es dir. Ich liebe dich, große Schwester"

sie verstehen (Fortsetzung zu "Meine Schwester")Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt